Die neue Gemeinde entsteht und baut sich ihr Haus (Teil 1)

Als mit Auspfarrungsdekret des Königlichen Konsistoriums vom 24. März 1887 die Emmausgemeinde als Tochter der St. Thomas-Kirchengemeinde am 1. April 1887 ins Leben trat, war dem ein langwieriger Prozeß von Verhandlungen und Beschlußfassungen verschiedenster Instanzen vorausgegangen. Die wichtigsten Voraussetzungen zur Gründung einer neuen Parochie waren einmal die Sicherung und Bereitstellung von Bauland und Finanzmitteln zur Errichtung einer angemessenen Kirche und zum anderen mußte der neu zu gründenden Gemeinde eine eigene Begräbnisstätte zur Verfügung stehen. Beides war, wie sich denken läßt, nicht leicht zu erlangen. Erst als der Druck durch das stete Anwachsen der Gemeindegliederzahl von St. Thomas - 1885: 130.809 Gemeindeglieder - eine Teilung immer dringlicher machte, zeichneten sich Lösungen ab: Die vereinigten Kreissynoden Berlins erklärten sich mit Beschluß vom 16. Juni 1885 bereit, 200.000 Mark zum Kirchbau zur Verfügung zu stellen. Weitere 200.000 Mark sollte der Magistrat beisteuern. Ein dahingehender Beschluß der Stadtverordnetenversammlung erfolgte am 9. Dezember 1886. Darüberhinaus bewilligte die Stadt mit selbem Beschluß, "unter Vorbehalt des Eigenthums an Grund und Boden", auch das "erforderliche Terrain auf dem Lausitzer Platze" kostenlos zur Verfügung zu stellen.
Die andere Hürde - Bereitstellung eines Friedhofs - wurde genommen, indem die Gemeindeorgane von St. Thomas am 18. Juni 1886 beschlossen, der neu zu gründenden Gemeinde eine Abfindungssumme von 100.000 Mark "zum Zwecke der Erwerbung eines eigenen Kirchhofs" zu zahlen. Ein Beschluß, den die Gemeindevertreter wohl nur mit Zähneknirschen gefaßt haben mögen, denn noch Jahre später klagen die Synodalen von St. Thomas darüber, wie sehr diese Abfindung die Gemeinde in Finanznöte gebracht habe. Emmaus erwarb dann tatsächlich innerhalb ungewöhnlich kurzer Zeit - schon im April 1888 - eigenes Friedhofsland: einmal 6,522 ha "von dem Landwirth Otto Gustav Franz Niemetz zu Rixdorf" zum Preise von 80.465 Mark und 6,416 ha "von den Eheleuten Bauer Friedrich Wilhelm Lehmann und Auguste Regine, geh. Fuhrmann zu Rixdorf" zum Preis von 90.460 Mark. Bereits am 18. November 1888 wurde der Kirchhof mit der ersten Bestattung feierlich seiner Bestimmung übergeben.
So waren denn alle Weichen zur Gründung der Emmausgemeinde gestellt. Die "Allerhöchste Order" vom 28. Februar 1887, mit der der amtierende Monarch die Namensnennung der neuen Kirche abzusegnen hatte, war noch von Wilhelm I. unterzeichnet, dem ersten deutschen Kaiser seit der Reichsgründung von 1871.

Bau der Kirche

Bau der Emmaus-Kirche 1892/93

Die neu gegründete Parochie zählte ca. 70.000 Seelen. Sie umfaßte das Gebiet, das von der Manteuffelstraße, der Köpenicker und Schlesischen Straße sowie dem Görlitzer und Kottbusser Ufer eingeschlossen wurde. Die neue Gemeinde war patronatsfrei. Den oben erwähnten Finanzzuschuß durch den Magistrat hatten die Stadtverordneten an diese Bedingung geknüpft. Was uns heute wie eine Formalität erscheint, hatte damals weitreichende Bedeutung. Der Patron einer Kirche, zumeist die Herrschaft des entsprechenden Gebiets, kam üblicherweise für die Baukosten "seiner" Kirche auf. Das Patronat schloß allerdings auch das Recht ein, zu bestimmen, welche Kandidaten in die Pfarrstellen berufen wurden. Die St. Thomas-Gemeinde war seinerzeit bei ihrer Abtrennung von der Luisenstadt-Gemeinde im Jahre 1864 eine Gründung der liberalen luisenstädtischen Bürgerschaft und stand unter dem Patronat des Magistrats. Sie war gedacht als Bollwerk gegen den konservativen Geist von Bethanien, einer Stiftung Friedrich Wilhelms IV., desselben Königs, der sich verhaßt gemacht hatte, als er im März 1848 das Aufbegehren der Bürger blutig niederschlagen ließ. Die liberalen Kräfte der Stadt wollten natürlich auch in der neuen Parochie das Sagen behalten, indem sie darauf vertrauten, die neue patronatsfreie Emmausgemeinde werde ihr Recht zur freien Pfarrwahl in liberalem Sinne gebrauchen. Zunächst schienen sich diese Erwartungen auch zu erfüllen: Die im Juni 1887 gewählten 10 Gemeindeältesten und 30 Gemeindevertreter von Emmaus gehörten alle der kirchlich liberalen Richtung an, selbstredend auch die beiden von St. Thomas übernommenen Pfarrer Paul Grauenhorst und Albert Pauli, und auch die bald zu besetzende 3. Pfarrstelle erhielt 1889 mit der Wahl von Karl Nierhoff einen liberalen Geistlichen. Doch bald änderten sich die Mehrheitsverhältnisse zu ungunsten der Liberalen.
Die Gemeinde selbst hat anfangs sicher kaum etwas von ihrer neuerworbenen Eigenständigkeit gespürt, denn äußerlich gab es vorerst wenig Veränderungen. Die Interimskirche, die nun Emmaus-Kapelle hieß, stand schon seit 14 Jahren als zweite Predigtstätte der St. Thomas-Gemeinde auf dem Lausitzer Platz. Sie war ursprünglich auf dem Mariannenplatz als erstes provisorisches Obdach für die St. Thomas-Gemeinde erbaut worden. Als sie nach Vollendung des Baus der Thomaskirche im Jahre 1869 überflüssig geworden war, diente sie 1871/72 einige Monate als Lazarett für "verwundete und kranke Krieger" des deutsch-französischen Krieges. Im Juni 1872 trug man sie schließlich ab und baute sie auf dem Lausitzer Platz wieder auf, wo sie Anfang 1873 eingeweiht wurde. Dieses Schicksal sollte dem kleinen Fachwerkbau, der 460 Sitzplätze hatte, noch einmal widerfahren, als man ihn Ende September 1889 zur Freilegung des Bauplatzes für die neue Kirche nochmals, diesmal in nur zwei Monaten, von der Mitte des Platzes nach Süden verschob. Erst 1894 wurde das Gebäude endgültig beseitigt und auf Abbruch verkauft.
Durch den geplanten Kirchbau auf dem Lausitzer Platz wurde ein dort ansässiger Wochenmarkt verdrängt. Dieser Umstand war mit ausschlaggebend für den Bau der Markthalle IX, der allseits bekannten Eisenbahn-Halle, in den Jahren 1890/91 auf damals noch unbebautem Gelände.
Auch personell gab es keine Veränderungen. Die Gottesdienste wurden weiter von den Pfarrern Grauenhorst und Pauli versehen, die als 3. und 5. Pfarrer von St. Thomas schon immer diesen Teil der Parochie betreut hatten. Mit ihnen blieben auch die zur Interimskirche gehörenden vier Kirchenbeamten, ein Kirchendiener mit Gehilfe, ein Kollektant und der Organist. Auch der Küster Heidorn, der neun Jahre an St. Thomas tätig gewesen war, ging zu Emmaus über. Die Vertreter der jungen Gemeinde setzten nun alles daran, ihr neues Gotteshaus zu errichten. Die dafür gegründete Baukommission trat im Oktober 1887 mit dem Königlichen Baurat Orth in Verhandlungen, und schon im November legte Orth sein Bauprojekt vor.
August Orth (1828-1901) galt vor dem Ersten Weltkrieg als einer der maßgebenden Kirchenbaumeister. Überzeugt von der staatstragenden Funktion der Kirche, stellte er sich bereitwillig in deren Dienst. Allein in Berlin sind sechs Kirchen nach seinen Plänen erbaut worden. So auch die heute noch erhaltene Gethsemanekirche im Berliner Osten. Zeitgleich erbaut mit Emmaus, soll ihr Inneres einen lebendigen Eindruck davon vermitteln, wie auch die Emmaus-Kirche einst wirkte. Orths Name ist aber auch verbunden mit seinerzeit zukunftsweisenden Projekten, wie der Planung der Stadtbahn. Sein erster bedeutender realisierter Bau war das Empfangsgebäude des Görlitzer Bahnhofs (1866/68), in Sichtweite der Emmaus-Kirche gelegen. In beiden Gebäuden drückte sich Orths stadtplanerisches Grundverständnis exemplarisch aus: Funktionell prägte der Bahnhof den entstehenden Stadtteil, das Stadtbild aber dominierte die Kirche.
Die Gemeinde hatte bei der Projektierung der Kirche allergrößtes Interesse, im Kirchengebäude außer einem großzügigen Gottesdienstraum eine Anzahl möglichst großer Nebensäle zu gewinnen, die den verschiedensten Funktionen dienen sollten. Orth hat diese Nebenräume geschaffen, indem er sie an die Basis des Turms jeweils rechts und links anschloß, so daß auf zwei Geschoßebenen vier Räume entstanden, die dann vor allem dem Konfirmandenunterricht dienten, aber auch als Tauf- und Traukapellen und für die Versammlungen der kirchlichen Körperschaften. Die Baupläne durchliefen verschiedene Begutachtungen und mußten in einigen Punkten abgeändert werden. Man fürchtete vor allem - wie sich herausstellte mit Recht -, daß die zur Verfügung stehenden Finanzmittel angesichts der Großzügigkeit der Planung nicht ausreichen würden. Auch die Statik des Baus schien gewagt und wurde dann tatsächlich Ursache für den zeitweiligen Entzug der Baugenehmigung. Die ungewöhnliche zentrale Stellung der Kanzel in der Mittelachse der Kirche, um die sich im Rund die Sitzplätze breiten sollten, erregte Befremden. Vor allem aber galten die vorgesehenen Nebenräume im Turm als "überflüssig groß", ja deren Notwendigkeit wurde überhaupt in Zweifel gezogen. In einer Erwiderung vom 27. August 1889 nimmt der GKR von Emmaus zu den Einwänden Stellung. Er verteidigt vehement und mit eindrucksvollen Zahlen die eingereichten Pläne. Allein im Jahre 1888 seien in der Emmaus-Kapelle 2.380 Kinder getauft und 212 Paare getraut worden. "An gewöhnlichen Sonntagen schwankt die Zahl der Taufen zwischen 30-40; an Festtagen werden gewöhnlich 100-122 Kinder getauft und mehrere Paare getraut." Wieviel mehr Amtshandlungen seien dann erst für die neue Kirche zu erwarten! "Da nun Massenhandlungen, wie solche in unserer aus mehr als 70.000 Seelen zählenden Gemeinde nicht zu vermeiden sind, der kirchlichen Feier leicht die Weihe und Würde rauben, so wollen wir dafür Sorge tragen, daß die Anzahl der zu einer Tauf-Abtheilung vereinigten Täuflinge für die Zukunft eine möglichst geringe ist. Dies kann erreicht werden, wenn zu gleicher Zeit von 3 Geistlichen an drei Stellen in unserem Gotteshause getauft werden kann." Dazu eben brauche man die Säle im Turm. Die zentrale Stellung der Kanzel wird ausdrücklich gutgeheißen, da man eine Predigtkirche bauen wolle und somit der Kanzel der Platz zukomme, "von wo aus der Prediger von dem größten Theile des Publicums am besten gehört und verstanden werden kann". Später einigte man sich darauf, die Plätze nur im Halbrund um die Kanzel zu gruppieren, so daß der Altarraum sich entsprechend vergrößerte.

 

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