Historischer Abriß zur Stadtteilentwicklung

Emmaus liegt auf dem Gebiet der ehemaligen Köllnischen Vorstadt. 1802 erhielt diese Vorstadt auf Wunsch ihrer Bürger den Namen Luisenstadt - in Verehrung der legendär gewordenen Königin Luise von Preußen. Lange vor dieser Zeit dienten die Fluren außerhalb der Mauern der Doppelstadt Berlin-Cölln, das sogenannte Köpenicker Feld, den Bürgern als Garten- und Weideland. Ende des 17. Jahrhunderts siedelten hier französische Emigranten und überzogen das durch den Dreißigjährigen Krieg verödete Land mit reichen Garten- und Gemüsekulturen. Im 18. Jahrhundert kamen erste Gewerbe wie Tuchfabriken, Töpfereien und Gerbereien hinzu. Zwischen 1732 und 1734 wurde eine neue Stadtmauer errichtet, die nun auch die Köllnische Vorstadt umschloß. Sie verlief von der heutigen Stresemannstraße über die Gitschiner und Skalitzer Straße bis zum Schlesischen Tor. Diese neue Stadtmauer war in erster Linie als Zollschranke gedacht und sollte zudem die Flucht von Soldaten verhindern. Die zum Teil erhalten gebliebenen Namen der alten Stadttore erinnern heute noch an diese Zeit. Ihre eigentliche Entwicklung aber erlebte die Luisenstadt erst im vorigen Jahrhundert. Das noch weitgehend unbebaute Köpenicker Feld mit seiner günstigen Lage zur Spree bot hierfür beste Voraussetzungen. Die Stadterweiterung vollzog sich in verschiedenen Phasen, beeinflußt von den Krisen- und Aufschwungzeiten der Wirtschaft. Unterschiedliche, einander ablösende Bebauungspläne sollten das Wachsen des neuen Stadtgebiets steuern und planerisch gestalten. Viele der heute existierenden Plätze und Straßenverläufe waren dort vorgedacht. So auch der Lausitzer Platz, der bereits in einem Plan von 1830, dem Plan von Schmid, als Torplatz für das Neue Köpenicker Tor vorgesehen war und 1847 in einer großzügig gestalteten Platzanlage zur Ausführung kam.

Kapelle um 1887

Emmaus-Kapelle, Lausitzer Platz um 1887

Für den Einzugsbereich der Emmausgemeinde war der Bau des Görlitzer Bahnhofs im Jahr 1865 von entscheidender Bedeutung. Der Bahnhof machte die Gegend mit einem Schlag zum bevorzugten Gewerbestandort. Mit dem Abbruch der Zollmauer 1867 wurde auch das ihn umgebende Gebiet zur Bebauung freigegeben. Zur Zeit der Gründung der Emmausgemeinde, also um 1887, war fast die gesamte Luisenstadt vollgesiedelt. Nur östlich des Lausitzer Platzes, in der Muskauer, Pückler- und Eisenbahnstraße gab es noch größere freie Flächen.
Aus den agrarischen Provinzen Preußens, Schlesiens und Sachsens, vor allem aber aus dem benachbarten Brandenburg kamen junge Handwerker in die Luisenstadt. Es kam aber auch ein Heer arbeitsloser Landarbeiter mit ihren Familien, die infolge der Aufhebung der Leibeigenschaft und der ihr folgenden Verbesserung der Produktionsmethoden in der Landwirtschaft brotlos geworden waren. Das rasante Bevölkerungswachstum jener Jahrzehnte belegen eindrucksvoll folgende Zahlen: 1801 hatte Berlin 173.440 Einwohner, 1875 - also nur vier Jahre nach der Gründung des Deutschen Reiches mit Berlin als Hauptstadt - waren es bereits 966.858 und 1910 war bereits die 2-Millionen-Grenze überschritten. Mit solchem Bevölkerungswachstum konnte die Bebauung nicht Schritt halten, auch wenn der Bauboom in diesen Jahren beispiellos war. Viele der zuwandernden Menschen fanden kein Unterkommen. Am Kottbusser Tor errichteten obdachlose Familien in den siebziger Jahren eine Barackensiedlung, die sich wahrscheinlich in nichts von den Slums unterschied, wie wir sie heute aus der dritten Welt kennen. Die enorme Wohnungsnot öffnete der Bodenspekulation und dem Mietwucher Tür und Tor. Die für Berlin so typischen Mietskasernen entstanden. Die besondere Form dieser Wohnanlagen resultierte nicht zuletzt aus dem damaligen Steuersystem, über das private Bauherrn an den Straßenerschließungskosten beteiligt werden sollten. Eigentümer zahlten nach diesem System Grundsteuern nicht nach der Gesamtgröße ihres Grundstücks, sondern nur nach dessen Breite zur Straßenfront. So setzte man logischerweise an das Vorderhaus möglichst viele Quergebäude und Seitenflügel und baute in die Höhe. Höfe hatten nach der Bauordnung von 1853 nur so groß zu sein, daß eine Löschpumpe der Feuerwehr sich darin drehen konnte. Es genügten zu diesem Zweck bereits knappe 30 qm. Was dies für die Menschen bedeutete, ist hinlänglich bekannt. Hinzudenken müssen wir uns katastrophale hygienische Zustände und eine enorme Überbelegung. Erst die Verabschiedung einer neuen Bauordnung in den Jahren 1887 und 1897 brachte hier einige Verbesserungen: Die Höfe mußten danach zum Beispiel eine Mindestgröße von 80 qm haben, Kellerwohnungen waren nur noch zugelassen bei einer Geschoßhöhe von 2,80 m, für WC im Haus mußte gesorgt werden.
In den Vorderhäusern, in denen sich auch größere und komfortablere Wohnungen befanden, wohnten zumeist Kaufleute, Beamte und Handwerker. Die Hinterhäuser wurden ausschließlich von Arbeitern bewohnt. Hier gab es nur die bekannten Kleinwohnungen mit Stube und Küche oder sog. Kochstuben. Die Mieten waren im Verhältnis zum durchschnittlichen Einkommen sehr hoch. Vor allem aber unterlagen sie keinerlei staatlicher Regelung und waren ständigen willkürlichen Steigerungen unterworfen. Mietverträge wurden immer nur auf ein viertel oder halbes Jahr abgeschlossen, meist zum 1. April und 1. Oktober. Wer mit der Miete säumig war, wurde nach Ablauf der Frist umstandslos auf die Straße gesetzt. So gab es regelrechte "Ziehtage". Im Jahrbuch für Volkswirtschaft und Statistik von 1871 heißt es dazu: "Am ärgsten jedoch war das Treiben in den Vorstädten, ganz besonders auf der äußeren Luisenstadt vom Halleschen Tor bis zum Lausitzer Platz. Ganze Straßen waren dort zu beiden Seiten so dicht mit Möbeln besetzt (...), daß man meinen konnte, es sei dort ein einziges Trödelmagazin etabliert worden."
Auch wenn Frau und Kinder mitverdienten, reichte das Einkommen in den vielköpfigen Familien oft nicht aus. Viele nahmen deswegen in die ohnehin schon drangvolle Wohnung einen "Schlafgänger" auf, das heißt einen Fremden, dem man ein Bett oder sonst eine Schlafstelle vermietete. Es war keine Seltenheit, daß sich bis zu zehn Menschen in einer Einzimmerwohnung drängten. Eine Untersuchung aus dem Jahr 1893 kam für die berüchtigten "Haberkern-Blöcke" zwischen Lübbener, Sorauer und Oppelner Straße zu dem Ergebnis, daß ein dort wohnender Mieter weniger Wohnfläche zur Verfügung hatte als ein Einzelzellenhäftling im Zuchthaus Plötzensee. Eine andere Möglichkeit, billig zu wohnen, bezahlten viele mit ihrer Gesundheit. Es war üblich, daß man gegen eine geringe Miete in die fertigen unteren Stockwerke eines Hauses zog, das sich noch im Bau befand. Man nannte das "Trockenwohnen". Schwere Bronchial- und Lungenleiden waren die häufige Folge. Zu all diesen Problemen kam noch hinzu, daß in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Wohnungen Fabriken und Handwerksbetriebe ihrem Gewerbe nachgingen und die Bewohner zusätzlich mit Lärm, Schmutz und Ausdünstungen beeinträchtigten. Diese besondere Struktur von durchmischten Wohn- und Arbeitsbereichen war in Jahrzehnten gewachsen, als noch keine öffentlichen Nahverkehrsmittel Arbeitsplatz und Wohnort verbanden.
Es ist naheliegend, daß sich Kirche und Obrigkeit zu besonderen Maßnahmen aufgefordert fühlten, um in den rasch wachsenden neuen Stadtvierteln ihren Platz zu behaupten und unkontrollierten Bewegungen vorzubeugen. Eine solche Maßnahme war die besondere Förderung von Kirchenbauten in den Gebieten der Stadterweiterung. Es bildete sich hierzu Mitte des vorigen Jahrhunderts eine eigens gegründete Kommission "Zur Abhülfe kirchlicher Nothstände". Berlin hat diesem besonderen Bauprogramm zahlreiche Kirchen zu verdanken. Mit der Schaffung neuer Gotteshäuser sollte der Verweltlichung der neu zugezogenen und zum Teil entwurzelten Bevölkerungsmassen entgegengewirkt und eine zunehmende Entfremdung vom Christentum verhindert werden. Auch der Bau der Emmaus-Kirche gehört in diesen Zusammenhang.

 

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