Leon Schidlowsky: Prelude


Prelude aus dem Jahr 1984 ist für 4 Tasteninstrumente (Celesta, Klavier, Cembalo und Orgel) und Chor komponiert. Die traditionell geschriebenen Noten geben einen Choral aus der Matthäus-Passion von J. S. Bach wieder. Dieser Choral taucht zweimal in verschiedenen Tonarten im gleichen Satz auf, ein für Bach ungewöhnliches Vorgehen. Die Variante in Es-Dur trägt den Text "Ich will hier bei dir stehen, verachte mich doch nicht! Von dir will ich nicht gehen, wenn dir dein Herze bricht. Wenn dein Herz wird erblassen im letzten Todesstoß, alsdann will ich dich fassen in meinen Arm und Schoß." Die E-Dur Variante: "Erkenne mich, mein Hüter, mein Hirte nimm mich an! Von dir, Quell aller Güter, ist mir viel Guts getan. Dein Mund hat mich gelabet mit Milch und süßer Kost, dein Geist hat mich begabet mit mancher Himmelslust." Der Komponist hat nicht an eine Wiedergabe der Texte gedacht, sonst wären sie wohl auch in der Graphik vorhanden. Bei Aufführungen in Berlin haben wir uns - in Absprache mit Schidlowsky - auf den Text der zweiten Variante beschränkt.
Das Zitat des Bach-Chorals ist als Abbild des Menschen, seiner Passion, seines Leidens zu verstehen. Die Tasteninstrumente kommentieren und zergliedern den Choral.

Eine mögliche Lesart der Graphik, die mehrfach aufgeführt wurde, sei hier angegeben:
Der Aufbau ist auf die vier Ecken des Raumes verteilt, d.h. in jeder Ecke steht ein Tasteninstrument und eine Chorstimme.
Der Chor summt den Choral in Es-Dur. Die Tasteninstrumente nehmen den Choral auf und spielen ihn im Kanon im Abstand von ca. 2 Takten. Der Choral wird dann von den Instrumenten wiederholt, wobei sich, wie auch schon zum Ende des ersten Durchgangs, starke Auflösungserscheinungen bemerkbar machen. D.h. die Instrumente spielen immer weniger vom Choral und immer mehr Anteile aus der jeweiligen Graphik, für die eine Lesart und Reihenfolge selbst erstellt werden muß (die Art der Graphik legt auch Spielen im Inneren des Instruments nahe, eine Variante, die nur bei Cembalo und Klavier möglich ist, und so, um eine gewisse Geschlossenheit zu erreichen, nicht übermäßig angewendet werden sollte). Am längsten bleibt der gleichmäßige Rhythmus des Chorals spürbar. Während dieser langsamen Zergliederung des Bach-Chorals findet eine starke Steigerung der Lautstärke statt. In den Höhepunkt hinein singt der Chor sehr laut Fragmente des Chorals, allerdings nicht auf einer Tonhöhe, sondern jeder Sänger seine Stimme von einem beliebigen Ton aus. Es entstehen "Klangbänder aus Bach". Nach diesem Durchgang des Chorals nimmt die Lautstärke und Intensität in den Instrumenten nochmals zu. Der Klang bricht plötzlich ab und der Bach-Choral erklingt in E-Dur mit dem entsprechenden Text, wobei die Instrumente colla Parte mitspielen. Ein für Neue Musik ungewöhnliches, harmonisches Ende, eine Huldigung an J. S. Bach.

[Ingo Schulz]

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