Die "misa sine nomine" wurde zwischen 1975 und 1977 komponiert. Das Werk trägt eine Widmung an den Pantomimen, Dichter, Theaterregisseur, Komponisten und Sänger Victor Jara.
Im September 1973 ereignete sich in Chile, in dem Land, in dem ich geboren wurde, ein Putsch, dessen Auswirkungen die
Zerstörung des demokratischen Lebens des Landes und die Errichtung einer Militärdiktatur waren. Eines von tausenden von
Opfern dieser "Neuen Ordnung" war Victor Jara.
Die "misa sine nomine" ist ein Werk für einen gemischten symphonischen Chor, einen kleinen gemischten Chor von zwanzig
Solisten, die ihrerseits die Akteure des Dramas sind, vier Schlagzeuger, die verschiedene Schlaginstrumente spielen, Orgel und
Sprecher.
Das Stück besteht aus sieben Teilen, und es werden fünf Fragmente aus der Liturgie der Messe benutzt: Kyrie, Gloria, Credo,
Benedictus und Dona nobis pacem, die von dem symphonischen Chor in lateinischer Sprache gesungen werden. Demgegenüber
werden "Chile", "Ich komme" und "Babel" von dem Solistenchor gesungen. Dieser spielt und begleitet sich selbst mit
latein-amerikanischen Schlaginstrumenten.
Der Introitus "Am Anfang" - in hebräischer Sprache - ist komponiert für Sprecher, beide Chöre und Schlaginstrumente.
Das "Lied" ist für Orgel komponiert, begleitet vom Sprecher mit einem Text in deutscher Sprache. Es dient der Schaffung einer
Atmosphäre, als harmonische Brücke zu den nachfolgenden Teilen.
Der Epilog, auf Deutsch gelesen, kehrt zu dem Anfangsgedanken mit beiden Chören, Sprecher und Schlagzeug (Glocken)
zurück; er markiert den Höhepunkt des Werkes. Sowohl der Introitus als auch der Epilog benutzen Texte des Alten Testaments.
Die Absicht des Komponisten war es, zwei Realitäten zu kombinieren und kontrapunktieren: die spirituelle und religiöse Welt,
gebaut durch die verschiedenen Teile der Messe, und die Konfrontation mit gesungenen weltlichen Texten, die von verschiedenen
Autoren geschrieben wurden. Diese weltlichen Texte enthalten eine Vision der menschlichen Realität, die dem Menschen das
Dilemma seiner Existenz zeigt.
Die "misa sine nomine" ist im Grunde ein Akt Musiktheater, wobei jede menschliche Entwicklung ihre künstlerische Rückwirkung in
seiner schöpferischen Darstellung hat. Der Sprecher führt uns in die "Schöpfung", eine Welt von Andeutungen und Vermutungen,
die in der Entwicklung des Werkes in eine grausame und zerstreute Realität zerfällt. Zugleich gibt uns der Sprecher die letzte
Reflexion, in die das Werk gipfelt.
Die "misa sine nomine" ist kein resignatives Werk, aber ein alarmierender Aufruf - eine verängstigte Geste gegenüber der
Ungerechtigkeit und dem Verbrechen.
Das Werk hat einen ritual-ähnlichen Charakter, wobei die Identifikation der Mitwirkenden mit dem Musiktheater- Ereignis sie so
besessen macht, daß sie zu "Babel" kommen, in die Sprachlosigkeit und in Wahnsinn. Es gibt Beklemmung, aber es gibt Kampf,
es gibt Protest und Ansprache.
Das Werk ist in zwei dramatisch-musikalische Dreiecke strukturiert:
I. | Am Anfang | |
II. | Kyrie eleison | Lied |
III. | Gloria | Chile |
IV. | Credo | |
V. | Benedictus | Ich komme |
VI. | Dona nobis pacem | Babel |
VII. | Epilog |
Während der "misa sine nomine" gibt es keine Pause, die dramatische Entwicklung ist ein ständiges "Werden".
Manchmal wird eine Episode durch eine andere überholt und so eine einmalige polyphone Dichte geschaffen.
Am Ende des Credos erklingt ein großer Akkord, an dem alle Mitwirkenden gleichzeitig beteiligt sind. Hier findet sich der
Höhepunkt des ersten dramatisch-musikalischen Dreiecks, aber auch zugleich der Beginn des zweiten Dreiecks, dessen
modulierende Brücke zum Benedictus führt. Dieses zweite dramatisch-musikalische Dreieck mündet in den Epilog - der Sprecher
zitiert wie "Am Anfang" das Alte Testament, und leitet so den Gipfel des Gesamtwerkes ein.
Das Werk wurde am 29. Juni 1980 in Hamburg uraufgeführt.
Weitere Aufführungen fanden 1993 und 1994 in Berlin unter der Leitung von Ingo Schulz statt.
Zum 25. Jahrestag des Putsches in Chile - 1998 - wurde die "misa sine nomine" in Berlin erneut aufgeführt. Von diesem Konzert ist eine CD-Aufnahme erhältlich!
(Leon Schidlowsky, Übersetzung David Schidlowsky/Ingo Schulz)