Die besondere Herausforderung der Markus-Passion besteht darin, dass sie praktisch nicht mehr existiert. Wer den Schleier von Geheimnissen, der über diesem Werk liegt, lüften will, sieht interessante Aufgaben vor sich. Am Anfang steht die Suche nach verwertbaren Spuren: Wir wissen, dass Bach nach Angaben seines Sohnes Carl Philipp Emanuel fünf Passionen komponiert haben soll. Die Matthäus- und die Johannespassion liegen in aufführungsreifer Form vor. Darüber hinaus besitzen wir aber lediglich das Textbuch einer "Passionsmusik nach dem Evangelisten Marco". Es stammt von Bachs Librettisten Christian Friedrich Henrici (alias Picander) und findet sich in dessen "Ernst-, Scherzhafften und Satyrischen Gedichten" von 1732. Als Aufführungsdatum teilt Picander den Karfreitag 1731 mit. Von der Musik allerdings kennen wir nicht eine Note, da die vermutlich einzige überlieferte Abschrift aus der Sammlung Franz Hausers bei einem Brand im Februar 1945 in Weinheim vernichtet wurde. Der Musikwissenschaftler Friedrich Smend versuchte eine Rekonstruktion aufgrund der bekannten Praxis Bachs, einmal komponiertes Material durch Umtextierung (Parodie) wieder neu zu verwenden. Mögliche Vorlagen für die Markus-Passion finden sich in der kurz zuvor zum Tode der sächsischen Kurfürstin Christiane Eberhardine entstandenen so genannten Trauerode, und zwar in so auffallender Übereinstimmung, dass Eingangs- und Schlusschor sowie drei von ursprünglich sechs Arien aus diesem Stück gewonnen werden konnten. Die Choräle sind größtenteils in der von Carl Philipp Emanuel 1784-1787 veröffentlichten Sammlung vierstimmiger Choralgesänge seines Vaters enthalten. Zwei weitere Arien schließlich gewann Smend aus den Kantaten BWV 7 ("Welt und Himmel") und 54 ("Falsche Welt"). Bis auf die Arie "Angenehmes Mordgeschrey", für die sich kein mögliches Modell fand, und den gesamten Evangelienbericht, der sich auf diesem Wege nicht rekonstruieren lässt, war damit Bachs mutmaßliches Konzept nachvollzogen. Diethard Hellmann besorgte aufgrund der Erkenntnisse Smends im Jahre 1964 eine praktische Ausgabe, wobei er die Arie "Welt und Himmel" allerdings abweichend nach einer Vorlage aus der Kantate BWV 120a herstellte.
Als Zwischenergebnis existierte nun immerhin ein repräsentativer Teil der Bachschen Passion, so wie er ausgesehen haben könnte. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Was tun mit einem solchen Fragment? Hellmann schlug vor, das Evangelium lesen zu lassen und die Stücke an den entsprechenden Stellen zu musizieren. Es liegt jedoch auf der Hand, dass ein solches Verfahren nicht gänzlich befriedigen kann. Verschiedene Komponisten machten sich daher an die Aufgabe, auf jeweils ganz individuelle Weise das Werk zu vervollständigen. Johannes H. E. Koch schuf einen Ergänzungsteil, dessen behutsam modernes Idiom eine intensive Beziehung zu Bachs Musik eingeht, ohne ihre Dominanz in Frage zu stellen. Die Instrumentierung bleibt schlicht, Orgelbegleitung herrscht vor, lediglich bei den Christusworten treten die beiden Gamben, die Bachs Partitur vorsieht, hinzu &
8211; Reminiszenz an die Streicherklänge der Matthäuspassion. Sensibel folgt Koch der Semantik des Textes, erliegt nie der Versuchung barocker Anklänge und erreicht stellenweise eine gewaltige dramatische Kraft. Es ist Musik zu Bach, aber auch über Bach. So ist der Torso vollendet, doch die Markus-Passion trägt nun mehrere Handschriften. Die logisch folgende Frage ist die nach einem überzeugenden Bogen über divergentem Material, die sich immer gleichermaßen an Komponisten und Interpreten richtet.
Letztlich aber bleibt Entscheidendes dem Zuhörer vorbehalten, der sich ein eigenes Urteil bilden muss. Bachs Musik in einer Umgebung, die ihr überraschende Aktualität verleiht und Picanders barocke Poesie, die zusammen mit dem Markus-Text quasi in veränderter Beleuchtung erlebt werden will, dies sind die besonderen Qualitäten dieser "neuen/alten" Passion. Wenn es gelingt [...], Interesse für dieses ungewöhnliche Werk und seine Aussage zu wecken, dann mag Bachs Intention trotz aller Rätsel im Letzten doch getroffen sein.
Mathias Michaely
Markus-Passion - der "tabellarische Lebenslauf" eines "Gelegenheits-Werkes"
1731 Uraufführung der Markus-Passion von J. S. Bach (wohl die einzige Aufführung des vollständigen Werkes)
1945 die vermutlich letzte vorhandene Abschrift verbrennt
1964 Rekonstruktion durch Diethard Hellmann
1978/79 Ergänzung durch Joh. H.E. Koch (auf Anfrage von Kantor Peter L. Voß aus Lippstadt)
1979 erste Aufführung der alt-neuen Markus-Passion
weitere Aufführungen u.a. in Nürnberg, Erfurt, Lüneburg, Herford und Paderborn
1994 eine Aufführung in Lengerich muss abgesagt werden, da Kantor Mittring kurz vor dem Konzert plötzlich verstibt
1995 die Aufführung in Lengerich (und Gronau) findet unter der Leitung von Ursula Mittring statt
der Carus-Verlag zeigt Interesse an der Partitur; eine extra von Koch angefertigte Reinschrift (die Arbeit eines Sommers) wird nicht benutzt, sondern ein Klavierauszug im Computersatz erstellt (aber leider bis heute kein weiteres Material)
viele weitere Aufführungen finden trotz der sehr schwierigen Material-Lage statt (für fast alle Aufführungern wurde aufwändig das Orchestermaterial und die Partitur neu zusammengeklebt)
CD-Produktion in Helmstedt
eine Aufführung in Amersfoort - ausverkauft!
21.3.2003 die Spur der Markus-Passion führt an den Ort des Ursprungs zurück; 2 Tage vor Kochs 85. Geburtstag singen die Thomaner in Leipzig die alt-neue Markus-Passion dort, wo Koch 75 Jahre früher als kleiner Thomaner auf derselben Chorempore gestanden hat
Während der Arbeit des Noten-Klebens für die Markus-Passion, die schon so viele Kantoren vor mir auch erledigt hatten, kam mir immer wieder der Gedanke, die von Koch neu komponierten Teile anders zu instrumentieren. Die von Koch gewählte Fassung nur mit der Orgel (plus zwei Gamben für die Jesus-Worte) leuchtete mir in vielem ein: sie schafft Abstand zum Werk des großen Meisters Bach, sie bleibt bescheiden und bläht sich nicht auf und sie bietet eine große Geschlossenheit. - Schade allerdings fand ich es doch. Eine farbigere Instrumentation hätte die grandiosen Harmonien Kochs und die Wucht der extrem kurzen Turba-Chöre dem Zuhörer sicherlich besser vermittelt. Auch hatte ich den Eindruck, dass eine zu große Trennung Koch/Bach nicht unbedingt gut ist. Der "kreative Schock" beim Aufeinanderprallen der alten und neuen Stücke wirkt auf mich um so überraschender, je dichter die verschiedenen Teile zuammenrücken. Doch: Nie habe ich Koch auf diese Idee angesprochen.
Ende Januar 2004, viele Wochen, nachdem alles Material endlich fertig war, schlug Koch vor, die Chorsätze zu instrumentieren! Nach gemeinsamen Erfahrungen an einem anderen Werk von ihm erschien uns beiden dies als ein möglicher Weg. Eine Nacht überschlafen, zwei Nächte Arbeit, und die Rohfassung war fertig, Koch von dem Ergebnis (hoffentlich angenehm) überrascht ("das wird ja ein völlig neues Stück") und ein Teil meiner ursprünglichen Idee doch noch umgesetzt.
Das so schön von mir neu hergestellte Material ist nun wieder Stückwerk, aber das muss wohl im kreativen Prozess so sein.
Nun dürfen wir alle gespannt sein, wie diese "neue Fassung der Neufassung" sich im Konzert bewährt - es gibt im April 2004 eine neue Uraufführung ...
Ingo Schulz