Sie treten ein: leise gregorianische Gesänge erklingen, Altarkerzen brennen, sanftes Licht fällt durch die Bildfenster in den Raum. Sie schließen die Tür, und der Alltag, aus dem Sie gekommen sind, bleibt hinter Ihnen zurück. Sie setzen sich, und ganz allmählich breitet sich die Ruhe des Raumes auch in Ihnen aus...
Vielleicht möchten Sie irgendwann eine Kerze entzünden; vielleicht möchten Sie auch einen Gedanken in ein paar Worten festhalten; vielleicht genießen Sie auch einfach nur die besondere Athmosphäre des Raumes.
Und irgendwann werden Sie wiederkommen.
Im Raum der Stille liegt ein Buch. Da kann man seine Gedanken eintragen und erstaunlich viele Menschen machen Gebrauch davon. Schaut man sich die Eintragungen dieser letzten zehn Jahre an, so kann man viel über die Sozialgeschichte im Kiez erfahren, man kann über Vorkriegszeiten und Kriegszeiten lesen, man kann aber auch ganz persönliche und sehr private Dinge erfahren, die Menschen dort öffentlich gemacht haben: die Sorge um die eigene Ehe, um den Arbeitsplatz oder die Angst vor einer drohenden Krankheit, aber auch Gebete für den Kosovo kann man finden. Auch die Sorge über den heraufziehenden Irakkrieg ist dort niedergeschrieben, die Erschütterung über die Bombardements findet dort einen Platz und die ohnmächtige Wut über die Kommentare der Militärs zu den unvermeidlichen, von ihnen so genannten Kollateralschäden.
Immer wieder erstaunt mich, dass die Kapelle nicht nur von den Christen der verschiedenen Konfessionen genutzt wird, sondern dass sich viele Gebete in dem Büchlein auch an Allah wenden. Selbst Agnostiker tragen ihre Ängste und Hoffnunge in dieses Buch auf dem Altartisch ein. Manche begründen sehr ausführlich, warum Gott keine Thema für sie ist - und ich werde das Gefühl nicht los, als würden sich diese Zeilen gar nicht an die Besucherinnen und Besucher richten, sondern doch an einen viel ferneren Adressaten.
Manchmal kommunizieren Besucher sogar über dieses Büchlein miteinander: Was unterscheidet eigentlich das Gebet von der Meditation, so fragt sich jemand, und ein paar Seiten später wiederholt jemand anderes die Frage und antwortet darauf: Gebet - das ist Reden mit Gott, Meditation - das ist Nachdenken über Gott. An der Seite findet man ein quergeschriebenes Danke, zum Zeichen, dass die Botschaft den Frager auch erreicht hat.
Wichtig ist den Menschen, dass ein Kerzenbaum im Raum der Stille steht. Darauf kann man Teelichter anzünden. Wichtig ist ihnen auch, dass wir von Zeit zu Zeit Platten mit geistlicher Musik auflegen. Und über die bleiverglasten Fenster mit den Szenen der großen kirchlichen Feste finden sich viele Eintragungen.
Sehen, hören, riechen, zu sich selber finden und die wenigen Anregungen ganz bewußt erleben, das zeichnet den Raum der Stille aus, wenn man den Notizen im Besucherbuch folgt. Es bräuchte viele solcher Orte, so kann man immer wieder lesen. Und daraus spricht wohl mehr als allein das Bedürfnis nach Stille.
Beim Durchblättern bin ich auf den Eintrag einer ehemaligen Mitarbeiterin gestoßen, sie war vor ein paar Jahren als ABM-Kraft bei uns beschäftigt. Sie schrieb ihrem verstorbenen Bruder, dass sie jetzt in einer Kirche arbeitet und dass es diesen Raum der Stille gibt und dass dies ein guter Ort für ihre Erinnerungen ist. Und sie schrieb ihm auch: Hier brennt ein Licht für dich!