Die vergessenen Nachbarn

Die Bekennende Kirche hat immer wieder betont, daß es ihr nicht um politische, sondern um rein religiöse Fragen ginge. Das war ihre Stärke und ihre Schwäche zugleich. Sie war dadurch einerseits nicht unmittelbar als staatsfeindlich angreifbar. Andererseits haben die Verfolgten, besonders die jüdischen Mitbürger lange vergeblich auf ein klares und helfendes Wort der Kirchen gewartet. Auch der Pfarrernotbund und das für viele lebensrettende "Büro Grüber", das Juden zur Ausreise verhalf, hatten sich in erster Linie für getaufte Mitchristen und Amtsbrüder jüdischer Herkunft verantwortlich gefühlt. Auch das bedeutete zu Zeiten unvorstellbaren Terrors sehr viel. Gleichzeitig aber stellte die Preisgabe der Daten aus den Kirchenbüchern für die sog. "Ariernachweise" die wichtigste Erfassungsquelle dar, über die die Nazis Menschen jüdischer Abstammung ausfindig machen konnten.
In der Emmaus-Gemeinde war die Angabe der Konfession der Eltern in den Taufbüchern bis 1936 nie streng gehandhabt worden. Sie fehlte oft ganz oder war nur bei einem Elternteil vermerkt. Schon während der Nazizeit war sie wohl aber auch bewußt vernachlässigt oder verschleiert eingetragen worden. In dem gleichnamigen Katalog der Ausstellung "Juden in Kreuzberg" von 1991 sind Deportationslisten Kreuzberger jüdischer Bürger abgedruckt, die als Teil von Behördenakten im Landesarchiv Berlin aufbewahrt werden. Bei der Durchsicht dieser Listen und anschließender Suche in den Taufbüchern der Emmaus-Gemeinde stellte sich zufällig ein unmittelbarer Zusammenhang her. Im September 1943 war eine Frau Anna Girr aus der Skalitzer Straße nach dem Osten deportiert worden. Wenig später, im Januar 1944, wurde ihr 26jähriger Sohn Günther abgeholt und nach Theresienstadt gebracht. Auf den Listen fehlen zwei weitere Söhne. Pfarrer Freybe hat die drei Jungen im Oktober 1935 getauft. Im Taufbuch fehlt jeder Hinweis auf eine jüdische Herkunft von Frau Girr. Was auch nicht auffiel, da häufig auch größere Kinder von dissidentischen Eltern getauft wurden. Es bleibt der Spekulation überlassen, ob die Taufe diesen zwei Söhnen etwas genützt hat oder ob sie von irgend einem anderen Ort verschleppt worden sind. Tatsache ist, daß Pfarrer Huhn und Pfarrer Freybe mehrfach versucht haben, jüdischen Menschen durch die Taufe zu helfen. Im Mai und Juni 1933 hatte Pfarrer Freybe eine Familie aus der Wiener Straße 63 getauft - ein Kind und drei Erwachsene. Und am selben Tag eine 40jährige Frau aus der Manteuffelstraße 89. Zwei Älteste haben sich dabei als Paten zur Verfügung gestellt. Es muß etwas von diesen Taufen in der Gemeinde ruchbar geworden sein. In der schon erwähnten ersten GKR-Sitzung nach der großen Verhandlungspause durch den Boykott der Deutschen Christen kam es deswegen zu einer schweren Auseinandersetzung und dem Abbruch der Sitzung. Das Protokollbuch hält fest: "Herr Matthes bittet um Auskunft darüber, wieviel Judentaufen und wieviel Mischehen in den letzten 2 Jahren in Emmaus geschlossen worden sind und welche Pfarrer die Amtshandlungen vorgenommen haben, ebenso fordert er die Bekanntgabe der Adressen der beteiligten Personen. Wegen ungebührlichen Betragens des Herrn Matthes hebt der Vorsitzende die Sitzung auf."
Pfarrer Huhn taufte noch 1939, 1940 und 1941 Erwachsene, aber auch Kinder jüdischer Eltern. Er setzte sich auch tatkräftig für seinen gefährdeten Amtskollegen Pfarrer Willy Oelsner von St. Thomas ein, der nur durch einen Zufall seiner Verhaftung in der Progromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 entging. Man hatte Pfarrer Oelsner vom Dienst suspendiert, weil er jüdische Vorfahren hatte. In welcher Weise er ihm geholfen hat, läßt sich nicht mehr ermitteln. Die Tochter von Pfarrer Huhn erinnert sich nur noch daran, daß die Familie deswegen in großer Angst schwebte und daß Pfarrer Oelsner nach seiner Emigration nach England noch an ihre inzwischen verwitwete Mutter geschrieben hatte.
Es mögen dies alles in unseren Augen keine spektakulären Taten sein, aber in einer Welt, aus der jegliches Unrechtsbewußtsein geschwunden war, bedeuteten sie sehr viel. Und: Für die Beteiligten waren die Konsequenzen ihres Tuns überhaupt nicht abzusehen. Pfarrer Huhn und auch Pfarrer Moschütz waren mehrfach Gestapo-Verhören ausgesetzt. Pfarrer Huhn war auch zeitweilig in Haft. Inwieweit die beiden anderen Pfarrer von ähnlichen Maßnahmen betroffen waren, ist unbekannt.
Die Deportationslisten, von denen eingangs die Rede war, sind bei aller Kargheit der in ihnen verzeichneten Angaben ein bedrückendes Dokument. Sie wiegen schwer. Noch schwerer wiegt, daß offenbar kaum jemand wahrgenommen hat, was da geschah, wie Nachbarn aus Häusern und Wohnungen verschwanden. Ganze Familien. Wie mag den Eltern zumute gewesen sein, die abgeholt wurden zusammen mit ihren drei kleinen Töchtern, geboren 1931, 1937 und 1940. Gewohnt haben sie in der Köpenicker Straße 24. Hinter ihren Namen steht nur "Osttransport 4.3.1943". Oder was wurde aus dem alten Mann aus der Sorauer Straße 6, den man am 10. Januar 1944 nach Theresienstadt brachte. Er war 82. Es ist unwahrscheinlich, daß er die Strapazen des Transports überhaupt überlebt hat. Viele solcher Schicksale ereigneten sich im Gemeindegebiet von Emmaus, denn auch da wohnten Juden - am Lausitzer Platz, in der Wrangelstraße, in der Muskauer, der Pückler, der Manteuffelstraße, überall. Darum, denke ich, sollte die Gemeinde, wenn sie sich ihrer Geschichte erinnert, diese Menschen, die einmal ihre Nachbarn waren, in ihre Erinnerung miteinschließen.

 

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