Luigi Dallapiccola:
Canti di Prigionia
Glaube, Freiheit, Widerstand
Anmerkungen zu Luigi Dallapiccolas Canti di prigionia
Sie alle wurden Opfer von Machtkämpfen, die sie selbst nicht zu verantworten hatten: Maria Stuart, die kurzzeitige Königin von Frankreich und später die Gegenfigur zu Elisabeth I. von England, Anicius Manlius Severinus Boethius, der geniale Philosoph, politische Denker und Berater in der Zeit der Völkerwanderung, und Girolamo Savonarola, der die strengen Maßstäbe der Bibel auch an die Institution anlegte, die sich aus der Heiligen Schrift der Christen rechtfertigte. Alle drei wurden Opfer von Glaubenskämpfen, jenen heftigen bis fanatischen Auseinandersetzungen zwischen Reform und Erstarrung, verantwortungsbewusstem Bekenntnis und Beugung der Religion für persönliche Macht- und andere (Ge-)Lüste. Maria Stuart wollte nach ihrer Rückkehr aus Frankreich die Einheit der (katholischen) Kirche in Großbritannien wiederherstellen, die weniger aus Opposition gegen die Missstände in den geistlichen Führungsetagen Roms als wegen des pikanten Verhältnisses, das der englische König Heinrich VIII. zu Liebe und Tod bezog, gespalten worden war. Boethius, der Jahrhunderte nach seinem Tod unter anderem durch seine Philosophie der Musik hohe Anerkennung fand, starb im Dickicht der Intrigen zwischen west- und oströmischer Kirche und Regentschaft. Girolamo Savonarola aber steht für den unerschrockenen Versuch, bereits Jahre vor Luther die katholische Kirche zu reformieren und die Kurie zu Einsicht und Umkehr zu bewegen. Er fand keinen Kurfürst Friedrich und keine Wartburg, die ihm Schutz vor der Rache des Papstes geboten hätten.
Für alle drei endete eine lange, quälende Gefangenschaft mit dem Todesurteil und der Hinrichtung. Bei allen dreien waren Fälschungen und Intrigen mit im Spiel: Maria Stuart wurde aufgrund sogenannter Kassettenbriefe verurteilt, die ihre Verstrickung in ein Mordkomplott beweisen sollten; sie waren unecht. Die Anklage gegen Boethius, der eine Art Kanzler und Berater für den Ostgotenkönig Theoderich war, beruhte auf einer Verleumdung. Savonarola wurde nicht nur durch Folter zu "Geständnissen" gezwungen, die Verhörsakten wurden überdies noch gefälscht.
Drei ganz unterschiedliche Menschen in ganz unterschiedlichen Situationen also. Ihr geschichtliches Wirken wurde von momentan Mächtigeren unterbunden, doch das, wofür sie sich einsetzten, war durch ihren gewaltsamen Tod nicht erledigt. Sie alle hinterließen so etwas wie letzte Worte, Schriften, Gedanken und Fragmente, die sie während ihrer Gefangenschaft wohl auch im Angesicht des nahen Todes verfassten: Maria Stuart das Gebet, das in kunstvoll gesetzten Versen der Hoffnung auf Gott Ausdruck verleiht und um Befreiung bittet (die manchmal nur der Tod bringen kann); Boethius die Schrift
De consolatione philosophiae (Über den Trost der Philosophie), die manchen als sein Hauptwerk gilt; Savonarola aber Meditationen über die Psalmen 50 (51) und 30 (31), von denen zumindest die letztere Fragment blieb; die Henker waren schneller als der theologische Gedanke. Diese letzten Worte, Vermächtnisse, Gebete, legte Luigi Dallapiccola seinen
Canti di prigionia zu Grunde.
Komponieren in brisanter Zeit
Der italienische Komponist, der aus Istrien stammt und in seiner Jugend das Elend von Deportation und Internierung am eigenen Leibe erfuhr, schrieb die drei
Gesänge aus dem Gefängnis in den Jahren 1938 bis 1941, also in politisch brisanter Zeit. 1938 hatte Hitler sein einstiges Idol Mussolini mehr oder weniger dazu gezwungen, "Rassengesetze" nach nationalsozialistischem Vorbild, das heißt: die Diskriminierung und Verfolgung der Juden als Staatsdoktrin einzuführen. Bis 1938 war das faschistische Italien ein autoritärer Staat, der seine Opposition mit allen Mitteln unterdrückte. Dennoch diente er vielen Exilanten aus Deutschland als zeitweilige Zuflucht und als Transitland. Schiffe der Jugend-Alliah, die jüdische Kinder vor den Nazis rettete, legten bis 1938 in Bari Richtung Palästina ab. Dallapiccolas Frau Laura war Jüdin. Mit ihr zog sich der Komponist - zumindest mit seinen Werken und Schriften - mehr und mehr aus dem öffentlichen Leben Italiens zurück.
1939 war der Spanische Bürgerkrieg mit tatkräftiger Unterstützung aus Deutschland für Francos Falangisten entschieden. Im September begann Deutschland mit dem Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg. Der gegenseitige Nichtangriffspakt und die einvernehmliche Abgrenzung der Interessensphären, die der deutsche Außenminister Ribbentrop mit seinem sowjetischen Kollegen Molotow aushandelte, spaltete die Opposition gegen Hitler, lähmte und schwächte sie. Nur einer der drei
Canti di prigionia wurde in jenen Kriegsjahren aufgeführt: der erste , die
Preghiera di Maria Stuarda - nicht in Italien, sondern in Brüssel. Dort leitete Paul Collaer die Musikabteilung des Belgischen Rundfunks. Er sorgte seit 1933 dafür, dass Werke nazi-verfolgter Komponisten durch Konzerte und Rundfunkübertragungen an die Öffentlichkeit kamen. Das
Gebet der Maria Stuart produzierte er 1940 kurz vor dem Einmarsch der deutschen Truppen in Belgien.
Mit den
Canti di prigionia entschied sich Luigi Dallapiccola für ein Sujet, für eine musikalische Ausdrucksform und für ein künstlerisches Genre, das engagierte Dichter, Maler und Musiker seit 1933 häufig wählten. Die Gefangenschaft wurde ihnen zur Diagnose der Zeit. In ihr konzentrierte sich nicht nur die politische Unterdrückung, sie symbolisierte auch den Zustand der menschlichen Gesellschaft. Mit seinem ersten Werk engagierter Musik beleuchtete Dallapiccola die Gegenwart durch Ereignisse aus der Geschichte, ähnlich wie Karl Amadeus Hartmann mit seiner
Simplicissimus-Oper, Wladimir Vogel mit seinem
Thyl-Claes-Oratorium oder Arnold Schönberg mit seiner
Ode an Napoleon Buonaparte das taten. Durch die historischen Gestalten, die er wählte, lenkte er die Aufmerksamkeit auf Auseinandersetzungen, die mit Glaubensmotiven begründet wurden. Er bewies damit eine erstaunliche Weitsicht, denn die Fanatisierung durch eine Idee, die außerhalb der gesellschaftlichen Rationalität und der politischen Vernunft liegt, schuf auch den Kriegen im 20. Jahrhundert ihre Massenbasis - und den heutigen Konflikten in der Welt nicht minder. Ohne die Berufung auf den Islam wäre ein Osama Bin Laden so wirkungslos geblieben wie ein Hernando Cortez ohne das Zeichen des Kreuzes. Religiöser und ideologischer Fanatismus aber führt Krieg auch nach innen. Eine solche Sichtweise auf den Zusammenhang von Religion und Macht, Ideologie und Staatsterror war damals, als Luigi Dallapiccola seine
Gesänge aus dem Gefängnis komponierte, auch unter den Linken nicht sonderlich populär. Sie setzte ein selbstbewusstes, unabhängiges Denken voraus.
Dallapiccola und die künstlerischen Strömungen der dreißiger Jahre
Kompositorisch bewegte sich Luigi Dallapiccola in einem musikalischen Unterstrom der späten dreißiger Jahre, der häufig unterschätzt wird. Nach 1933 wandten sich immer mehr Komponisten der Zwölftonmethode zu, auch solche, die das Reihendenken vorher abgelehnt hatten, wie Wladimir Vogel, Ernst Krenek, auch Hanns Eisler. Diese Entwicklung hat weniger mit dem Anschluss an ein Ordnungsdenken zu tun, das der Zwölftonlehre oft unterstellt wurde, sondern eher mit einem "avantgardistischen Sog", der die laut Naziterminologie "entarteten" Komponisten miteinander verband. Das musikalische Material in Dallapiccolas Canti besteht aus zwei Schichten. Die eine greift weit in die Historie zurück: Die liturgische Weise des Dies irae, der Sequenz aus der lateinischen Totenmesse, durchzieht in den Instrumentalparts das ganze Werk und übernimmt dort bisweilen eine absolut dominierende Funktion. Zwar gehört diese Dichtung mit ihren Schreckensvisionen vom jüngsten Tag theologisch zu den fragwürdigsten, literarisch jedoch zu den stärksten und musikalisch zu den bekanntesten Teilen des Requiems. Es repräsentiert - spätestens seit Hector Berlioz' Symphonie fantastique - gleichsam die apokalyptische Grundformel der Musik.
Die zweite Materialschicht der Canti war zur Zeit ihrer Entstehung aktualitätsbezogen. Dallapiccola verwandte zwei Zwölftonreihen. Er setzte sie weniger als regulierende Instanz im Hintergrund ein, sondern hauptsächlich wie klassische Themen und Motive. Sie nehmen zum Teil, wie die allererste Figur in den Klavieren, zeichenhafte Bedeutung an. Dallapiccolas Reihenkomposition unterscheidet sich von Schönbergs Verfahren. Der italienische Komponist, der dreißig Jahre jünger war als der Meister der zweiten Wiener Schule, zeigte damit auch, dass die Reihentechnik viele individuelle Deutungen und Anwendungen zulässt.
Den zwei Schichten des musikalischen Materials entsprechen zwei Schichten des Klangs. Die instrumentale und die vokale Ebene sind zwar motivisch miteinander verflochten, in der musikalischen Erscheinung aber deutlich voneinander unterschieden. Dallapiccola besetzt keine Streicher oder Bläser, sondern nur Instrumente, die Impulstöne von unterschiedlicher Ausschwingdauer hervorbringen können. Solche "perkussiven Orchestrierungen" kennt man von Igor Strawinsky, bei Dallapiccola findet man sie selten. Mit Strawinsky verbindet die Canti auch die Wahl der lateinischen Sprache - sie objektiviere, schaffe Distanz und verhindere gefühlige Identifizierung, wirke damit ähnlich wie die gehärteten und scharfen Instrumentierungen, meinte Strawinsky. Bei Dallapiccola hat die Objektivierung durch die liturgische Sprache noch einen anderen Sinn: Die jeweilige Situation wird über das Niveau des Einzelschicksals hinausgehoben. Es geht um menschliche Angelegenheiten, letztlich um den verantwortlichen Dialog des Menschen mit Gott. "Nur die menschlichen Stimmen bringen in den Canti wirklich ausgehaltene und gebundene Töne und Phrasen hervor; dieser Effekt ist ein starkes Sinnbild für Humanität, die mitten unter bedrohlichen, zerstörerischen Kräften den Lebenswillen nicht aufgibt." (J.C.G. Waterhouse) Die Musik fängt in ihrer eigenen Gestalt die Lage der Menschen ein, auf deren Worte sie sich bezieht: In Haft, dem Tode nah, wenden sie sich an Gott, in dem sie ihre Hoffnung und ihre Freiheit beschlossen und gesichert sehen. Turbulenten, apokalyptischen Passagen setzt Dallapiccola solche von entrückter Klarheit entgegen. Die Struktur des Werkes kommt aus seinem Inhalt . Zugleich fängt Dallapiccola in seinen Canti unterschiedliche musikalische Ideen seiner Epoche wie in einem Brennglas auf. Ein engagiertes Werk, nicht als Kirchenmusik geschrieben, aber im Gotteshaus am richtigen Ort.
[©Habakuk Traber, 2002]
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