Die Musik von Alfred Schnittke (1934-1998) ist in vielerlei Hinsicht ein Produkt der russischen Tradition (Schostakowitsch und Strawinsky), aber auch der von Deutschland (Mahler und Berg) und Amerika (Ives). Als der bedeutendste Komponist, der nach Schostakowitsch in Rußland in Erscheinung getreten ist, hat Schnittke neue Dimensionen in der russischen Musik des 20. Jahrhunderts eröffnet - Musik, die nicht auf eine einzige Tradition festgelegt, sondern viele verschiedene aufzunehmen bemüht war. So eng Schnittke sowohl Mahler als auch Schostakowitsch verbunden ist, steigert er doch sämtliche von ihnen gesetzte Kontraste und treibt diese starke nachromantische Tradition bis in die extremste Polystilistik des ausgehenden 20. Jahrhunderts voran.
In den 60er Jahren schrieb Schnittke fast ausschließlich auf serielle Verfahren gegründete Kammermusikwerke.
1968 änderte Schnittke dramatisch seine Kompositionsweise. Die Werke dieser Phase enthalten Kontraste, stilistische Kollisionen und Paradoxien der Logik und des Aufbaus. Schnittke kombiniert Andeutungen und einzelne Elemente verschiedener Stile, hält dabei jedoch immer das Gleichgewicht zwischen den Stilen. Die Musik verändert die Perspektive der Hörer. Auf dieser Ebene können wir uns ohne weiteres einen Dialog zwischen J. S. Bach und moderner Rockmusik vorstellen.
Die Idee, ein Requiem zu komponieren, kam Schnittke, als er sein Klavierquintett schrieb (1972-76). Das Quintett war seiner 1972 verstorbenen Mutter gewidmet, und er wollte aus einem der Sätze ein kurzes instrumentales Requiem machen. Der Komponist hatte bereits alle wesentlichen Themen des Requiems skizziert, doch erschienen sie ihm vom Charakter her eher vokal als instrumental und wurden daher im Quintett nicht verarbeitet.
Schnittke setzte die Idee des Requiems erst dann endgültig um, als er die Bühnenmusik für eine Inszenierung von Schillers Drama "Don Carlos" am Moskauer Mossowet-Theater (1975) schreiben sollte. Der Regisseur wollte das Schauspiel vor dem Hintergrund katholischer Kirchenmusik inszenieren, und Schnittke beschloß, ein vollständiges Requiem zu komponieren.
Das Werk hat vierzehn Sätze, die bis auf wenige Ausnahmen die traditionelle Reihenfolge einhalten: Es gibt weder ein Libera me noch ein Lux aeterna, der letzte Satz ist schlicht eine Wiederholung des ersten, der Text des Recordare wurde gekürzt und ein der lateinischen Messe entlehntes Credo hinzugefügt.
Ursprünglich wollte Schnittke das Werk "Missa brevis" nennen, da die meisten Sätze sehr kurz sind. Es enthält keine wesentlichen Kontraste, und die meisten Themen und Bilder sind eher statisch, bedächtig, nachdenklich und gespenstisch. Selbst das Sanctus bringt kein Licht - es ist in Moll anstatt wie üblich in Dur gehalten. Schnittke hat über diesen Satz gesagt, er sei ihm im Traum eingefallen.
Das Requiem setzt kein großes Orchester ein, nur ein kleines Instrumentalensemble mit Perkussion, Gitarre, Baßgitarre, Tasteninstrumenten, dazu einer Trompete und Posaune (die nur im Tuba mirum und im Credo zum Einsatz kommen).
[Ingo Schulz]