Die Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach
Komposition und Überlieferung
Viel spricht dafür, daß Bach das Werk in der kantatenlosen Zeit vor Ostern komponiert hat. Eine längere Kompositionsphase läßt sich schwer mit Bachs Lebenslauf vereinbaren, schließlich hatte er jeden Sonntag eine neue Kantate für den Gottesdienst abzuliefern. Das heißt aber, daß Bach nur die sechs Wochen vom 20. Februar 1724 bis zum 7. April 1724, an dem die erste Aufführung der Johannes-Passion stattfand, zur Verfügung standen! Der Text, der von einem uns unbekannten Dichter stammt, wird wohl eher fertig gewesen sein.
Doch dann beginnen die Fragen.
Von dieser ersten Fassung ist keine Partitur überliefert, und die Stimmen wurden - soweit erhalten - bei späteren Aufführungen geändert und wiederverwendet.
Ja, selbst die Frage, ob die Aufführung 1724 wirklich die erste war, kann nicht mit letzter Sicherheit beantwortet werden.
Die Johannes-Passion hat Bach im Laufe seines Lebens mindestens viermal aufgeführt, immer mit Änderungen, deren Grund nicht immer ersichtlich ist.
So ist es schwer, sich bei einer Aufführung in der heutigen Zeit für eine Variante zu entscheiden. Die Idee, daß jede Änderung auch gleichzeitig Verbesserung war, muß verworfen werden. Manche Änderungen scheinen von außen diktiert gewesen zu sein, da Bach sie in der vierten Fassung rückgängig machte.
1730 begann Bach mit einer neuen Reinschrift der Partitur, die jedoch von einem Kopisten fertiggestellt worden ist, anscheinend anhand der verschollenen Partitur der ersten Aufführung (unter Spezialisten mit "X" bezeichnet).
Die beste Möglichkeit für eine Aufführung in unser Zeit scheint die neueste Notenausgabe (Neue Bach Ausgabe) zu bieten.
Der Text des Werkes
Die Texte der Johannes-Passion, soweit sie nicht Bibelwort sind, scheinen weitgehend von einem uns unbekannten Dichter zu stammen, der sich stark an dem damals sehr bekannten Passionstext "Der für die Sünde der Welt Gemarterte und Sterbende Jesus" des Hamburger Ratsherren Barthold Heinrich Brockes orientiert und diesen, den Gepflogenheiten der Zeit entsprechend, "nachdichtet". Doch sind offensichtlich nicht alle Texte von einer Hand geschrieben. Daß Bach selbst der unbekannte Textdichter sei, ist nicht zu belegen und eher auszuschließen.
Die freien Texte
Der Dichter der Passion orientiert sich über weite Strecken an der Theologie des Johannes-Evangeliums.
Der johanneische Jesus ist Gesandter des Vaters, der eine Botschaft zu überbringen hat. Er war vor allem Anfang und wird ewig sein; er ist stets der königliche Gottessohn. Wunder vollbringt er nicht aus Barmherzigkeit, sondern "zur Ehre Gottes, daß der Sohn Gottes dadurch geehrt werde".
Dies spiegelt sich auch im Passionsbericht wider: Jesus leidet nicht wirklich, die Kreuzigung ist Durchgangsstation. Kein Kuß des Judas, Jesus geht seinen Häschern entgegen; "er wußte alles, was ihm begegnen sollte". Er antwortet dem Pilatus nicht immer, bleibt an einem Ort. Pilatus ist es, der hin- und herläuft, wie ein Diener. Jesus trägt bei Johannes sein Kreuz selbst, sorgt noch am Kreuz für seine Mutter. Der Aufschrei "Mein Gott, warum hast du mich verlassen" fehlt natürlich, Jesus schreit nicht auf, sondern spricht "es ist vollbracht".
Diese Theologie ist allerdings in der Johannes-Passion nicht immer wiederzufinden, z.B. setzen die Nachdichtungen der Brockes-Passion einer solchen Ausdeutung Grenzen. Am deutlichsten ist das Gedankengut des Johannes-Schreibers in folgenden Sätzen zu finden:
a) Eingangschor "Herr, unser Herrscher": Das Grundthema wird aufgezeigt mit einer Anspielung auf Psalm 8, 2. Worte wie "Herr, Herrscher, verherrlicht, herrlich" werden von der "größten Niedrigkeit" nicht aufgehoben. Diese zeigt nur den Weg des Heilands, seine Mission bei den Menschen.
b) Choral "O große Lieb": Jesus erwirkt den freien Abzug für seine Jünger. Er erklärt sich als Herrscher, dessen Reich "nicht von dieser Welt" ist.
c) Arie "Ich folge dir gleichfalls": Der freudige Affekt des Tanzes fügt sich in den Gesamtzusammenhang (s. auch Nr. 32, "Mein teurer Heiland") eines nicht tragischen Werkes.
d) Choral "Ach großer König": Bezug zum Eingangschor, Jesus, der Herrscher, der König.
e) Choral "Durch dein Gefängnis": Die Gefangennahme und Kreuzigung Jesu als Heilsnotwendigkeit. Fast wird Jesus zum Gegenspieler des Pilatus: der würde ihn lieber freilassen, doch Jesus will seinen vorbestimmten Weg gehen.
f) Choral "In meines Herzens Grunde": Eine feierliche Hymne auf den herrlichen Herrscher.
g) Arie "Es ist vollbracht": Aus der betrachtenden stillen Stimmung erhebt sich der Mittelteil "Der Held aus Juda siegt mit Macht", der den endgültigen Sieg Jesu beschreibt.
h) Arie und Choral "Mein teurer Heiland, laß dich fragen": Direkt nach Jesu Tod ein Tanz in Dur, der die freudige Verheißung auch im Text unterstreicht: "Jesu, der du warest tot, lebest nun ohn Ende".
i) Schlußchoral "Ach Herr, laß dein lieb Engelein": Die Anrede "Herr" und der hymnische Schluß "[...] ich will dich preisen ewiglich!" stellen einen direkten Bezug zum Anfang des Werkes dar.
Der Bibeltext
Der Evangelienbericht stimmt bis auf zwei Einschübe mit dem Text des Johannes überein. Ergänzt sind zwei Stellen aus Matthäus: "Da dachte Petrus an die Worte Jesu [...] und ging hinaus und weinete bitterlich" sowie "Und der Vorhang im Tempel zerriß in zwei Stück[...]". Ursache für die beiden Einfügungen ist offenbar die Absicht, Affekte wie "Klage" und "Reue" im Sinne der Affektenlehre der Zeit nutzbar zu machen.
Beide Einfügungen hat Bach in der dritten Fassung der Johannes-Passion entfernt, vielleicht aufgrund äußeren Druckes; denn in der vierten Fassung macht er die Änderungen rückgängig.
Die Choraltexte
In der Wahl der Choräle war Bach weitgehend frei - vielleicht ist er auch Empfehlungen des unbekannten Textdichters gefolgt. Jedenfalls entspricht die Auswahl dem Gesamtgestus des Werkes (das den Gottessohn verherrlicht) und Bachs Gewohnheit, kaum "moderne" Liedtexte zu vertonen. Wenn man Satz 22 ("Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn") nicht berücksichtigt, der nicht als Choraltext aufgefunden werden konnte und wohl neueren Datums ist, stammt das "modernste" Lied von 1647.
Die Gesamtform der Johannes-Passion
Wenn man von einer Komposition des Werkes in den sechs Wochen der festlosen Zeit des Jahres 1724 ausgeht, ist eine vorausschauende Planung unwahrscheinlich; eher wird Bach - wie bei den Kantaten - am Text entlang komponiert haben. Die Form der Johannes-Passion wurde weitgehend durch äußere Gegebenheiten bestimmt. Da ist zuerst der vorgegebene Bibeltext, dann die Zweiteilung, um der Predigt, die zwischen den beiden Teilen gehalten wurde, ihren Platz zu geben.
Verschiedene Versuche, in der Johannes-Passion einen symmetrischen Aufbau zu entdecken oder eine komplexe symmetrische Tonartenstruktur zu begründen, sind schwer zu halten. Trotzdem sind Beziehungen zwischen den einzelnen Sätzen deutlich zu bemerken. So ist es nicht unwahrscheinlich, daß Bach vor Beginn der Komposition ein Tonartenschema für den Gesamtverlauf festgelegt hat. Die thematischen Verwandtschaften zwischen einzelnen Sätzen sind aber wohl eher bei der Niederschrift entstanden, wobei natürlich nicht auszuschließen ist, daß Bach bei bestimmten Sätzen schon die Unterlegung eines zweiten Textes geplant hat.
Sowohl Chöre als auch Choräle legen mehrere Möglichkeiten, eine Form zu deuten, nahe; doch die Chöre wurden in ihrer Abfolge durch den Text vorgegeben, und eine mögliche Verbesserung der Anordnung der Choräle in der zweiten Fassung (durch ein viertes Verwenden der Melodie "Jesu Leiden, Pein und Tod") nimmt Bach in der dritten und vierten Fasung nicht wieder auf.
Auffällig ist, daß Bach Chöre und Arien "komplementär" anordnet. So finden sich im zweiten Teil, in dem die Volksmenge nicht mehr so oft zu Wort kommt, wesentlich mehr betrachtende Arien. Spricht man diesen einen starken inhaltlichen Aspekt zu, ergibt sich eine Steigerung innerhalb des Gesamtwerkes bis zur durch drei Arien und ein Arioso hervorgehobenen Schilderung der Todesstunde Christi, die durch die Doppelung des Schlusses durch den Chor "Ruhet wohl" und den Choral "Ach Herr, laß dein lieb Engelein" noch verstärkt wird.
So ergibt sich - mit dem großartigen Eingangschor "Herr, unser Herrscher" - eine dramatisch ausgewogene Gesamtform, die auch den heutigen Menschen noch zu fesseln vermag.
[Ingo Schulz]