Predigt von Wolf Krötke
am 14.4.2002 in der Ölberg-Kirche

1. Johannes 2, 2

Er ist die Versöhnung für unsere Sünden;
Nicht allein aber für die unseren,
sondern auch für die der ganzen Welt

 

Liebe Gemeinde,

Das Wort "Sünde" hat in unserer Zeit einen großen Bedeutungsverlust erlitten. In der Alltagsprache ist es beinahe ein aussterbendes Wort. Denn es sagt nichts mehr, was Menschen unbedingt angeht, sie umtreibt und beunruhigt. "Wir sind alle kleine Sünderlein", haben die sog. Jecken beim rheinischen Karneval auch in diesem Jahr mit Inbrunst und lachenden Gesichtern gesungen. Ihre Botschaft ist offenbar, dass Sünde etwas ganz Erfreuliches und Amüsantes sein kann. Es ist zwar nicht ganz astrein, was wir uns hin und wieder - besonders im männlich-weiblichen Verhältnis - leisten. Aber das gibt der Sache ja gerade ihren Reiz. Ein bisschen Sündigen macht allen Spaß und ist ein schönes Thema für lustige Lieder.

In einem DDR-Wörterbuch wurde als erste Bedeutung, die das Wort "Sünde" hat, darum nicht zufällig der Begriff "Fehltritt" angegeben. Wir tapsen ein wenig daneben, essen und trinken ein bisschen zu viel, leisten uns "sündhaft" teure Sachen, schlagen hier und dort über die Stränge. Aber darüber wird mit Augenzwinkern und nicht selten sogar mit einer gewissen Art von Stolz geredet. Die kleinen Sünderlein bestätigen sich gerne gegenseitig, was für tolle Kerle sie doch sind. Nur bei den "Verkehrsündern" wird's deutlich ernster. Da muss man zahlen, wenn man erwischt wird. Und genauso ergeht's den "Umweltsündern" oder den "Dopingsündern- und sünderinnen". Sie haben mit Strafen zu rechnen, weil sie anderen Menschen und letztlich sogar sich selbst schaden.

Harmlos und zum Lachen sind solche "Sünden" also ganz bestimmt nicht mehr. Insofern klingt das Wort "Sünde" hier schon etwas bedrohlicher als in den lustigen Liedern und launigen Werbesprüchen. Wer Flüsse vergiftet und Landschaften verseucht, bedroht unser Leben. Und was Doping anrichten kann, führen uns die Opfer des Leistungssports in der DDR nur allzu deutlich vor Augen. Dennoch verwundert es, warum das so viel lächerlich gemachte Wort Sünde in einzelnen Bereichen menschlichen Fehlverhaltens wieder in Kurs kommt. Warum redet man nicht einfach von Regelverstoß oder von Gesetzesbruch? Warum werden andererseits die manifesten Verbrechen wie die Anschläge des 11. September oder die rechtsradikalen Gewalttaten nicht Sünde genannt?

Vielleicht liegt das daran, dass das Wort Sünde von seinem christlichen Gebrauch her unbewusst immer noch mit so etwas wie Vergebung in Zusammenhang gebracht wird. Denn Sünde ist - wie ja auch unser Text sagt - das menschliche Tun und Verhalten, welches Gott wieder gut macht, indem er die versöhnt, die sich an ihm und seiner Schöpfung vergangen haben. Wo Sünde ist, da ist Vergebung - das ist die eindeutige Aussage des Evangeliums. Von daher hat das Wort Sünde, auch wenn das Evangelium in Vergessenheit geraten ist, offenkundig die Klangfarbe des Verzeihlichen angenommen.

Es ist zwar schlimm, Menschenleben im Straßenverkehr gefährden, die Luft zu verseuchen und die Gesundheit aufs Spiel zu setzen. Aber es ist nicht ganz schlimm. Ein Verkehrssünder steckt in keiner auswegslosen Sackgasse. Die Blitzermeldungen im Morgenradio helfen ihm, beim Verkehrssündigen gut durchzukommen. Umweltschäden kann man flicken und in zwei Jahren bringen die Dopingsünder wieder Höchstleistungen. Schlimm wird's erst, wenn einer mit seinem an sich verzeihlichen Tun ganz Schlimmes anrichtet, tatsächlich Menschen überfährt und tödliche Krankheiten verschuldet. Doch wenn das passiert, dann nennt man ihn charakteristischerweise nicht mehr Sünder. Dann hat er Unverzeihliches angerichtet.

Wir befinden uns als Christen also in einer ganz verqueren Situation, wenn wir heute Menschen auf die Sünde, die Gott vergibt, anreden möchten. Auf der einen Seite hört sich das wie etwas nur halbwegs Schlechtes an, mit dem wir selbst zurechtkommen können, für das es keines Gottes bedarf. Auf der anderen Seite aber wird das wirklich Schlimme, Menschenmörderische und Grauenvolle von der Sünde abgekoppelt. Es ist das bloß Böse, das aus dem Rahmen des Menschlichen gänzlich ausbricht. Es mit Verzeihen und Versöhnen in Zusammenhang bringen zu wollen, sprengt die Möglichkeiten von Menschen.

"Sie soll nicht wagen, ihm zu vergeben", sagt Iwan Karamasow in Dostojewskis Roman von der Mutter, deren kleiner Sohn vor ihren Augen von der Hundemeute eines russischen Generals zerfetzt wurde. "Sie dürfte ihm noch nicht einmal dann vergeben, wenn das Kind selbst ihm verziehen hätte", sagt Iwan weiter. Denn das unaussprechliche Leid, das Menschen über unschuldige Menschen, über Kinder bringen, ist durch nichts zu entschuldigen und wir verstehen, warum das so ist. Auch wir sind damit überfordert, wenn wir den Tätern des Holocaust vergeben sollten. Denn das hieße für unser Verständnis die Opfer beleidigen. Die tausenden Toten unter den Trümmern des World Trade Center gestatten uns aus dem gleichen Grunde nicht, nach Erbarmen für die Täter zu fragen.

So steht es also mit der Sünde in unseren Tagen, liebe Gemeinde! Wo sie ganz unerträglich, ganz brutal auf den Plan tritt, da wird sie verschwiegen. Und da verliert sich jeder Zusammenhang mit dem Vergeben und Versöhnen. Da sprechen die Waffen ihre tödliche Sprache. Aber wo sie zum Verharmlosen unseres Tuns nützlich ist, da greifen Menschen zu diesem Wort, um sich als kleine Fische im großen Meer menschlicher Untaten zu profilieren, mit denen ansonsten alles in Ordnung ist.

Vor Gott aber ist beides falsch. Denn vor ihm sind die "Sünden der ganzen Welt" die gleichen und erst recht die Menschen, die sie verüben. Vor ihm teilt sich die Welt nicht in eine halbwegs harmlose Welt mit ein paar Schönheitsfehlern und in eine "Achse des Bösen". Diese Einteilung ist nur möglich, wo sich über Gottes Geschöpfe der tiefe Schatten des Vergessens Gottes senkt, in dem wir nicht mehr klar sehen können: nicht uns selbst und nicht die anderen, die wir unmöglich als "kleine Sünderlein" zu betrachten vermögen und sie deshalb Verbrecher nennen. Vor Gott ist einer wie alle, auch wenn sich jeder in sehr spezieller Weise aufs Sündigen versteht. Denn den Startschritt in die Sünde machen alle auf die gleiche Art und hasten dann in gleichen Loipe vorwärts. Es ist der Startschritt raus aus dem Lichte Gottes, ihm aus den Augen.

So hat schon der alte Mythos am Anfang der Bibel die Erfahrungen zusammengefasst, die mit der Menschheit - mit Adam - zu machen sind. Selbst wie ein Gott sein und selbst das Maß des Guten und Bösen zu setzen ist der mutige Anfangsschwung, mit dem wir uns aus den Augen Gottes in die Kurven des Lebens stürzen. Aber wenn er uns dann ruft - "Adam wo bist Du"? - dann glucken wir hinter irgendeinem Gebüsch, damit er bloß nicht sieht, was aus uns geworden ist. Licht weg, Kamera aus! Das ist der Schauplatz der Sünde. Und siehe da: schon scheint alles bloß halb so schlimm, ja vielleicht überhaupt nicht schlimm zu sein.

"Ich wäre gern ein Sünder gewesen, aber es gelang mir einfach nicht", lässt Michel Houellebecq (Wellbech) in einem seiner derzeit viel gelesenen Romane einen Zeitgenossen sagen, dessen Lebensführung in Wirklichkeit eine einzige Verachtung der Menschenwürde ist. Adam lässt grüßen mitten aus der sogenannten "Postmoderne"! Seine Kunst, sich als kleines Sünderchen mit verzeihlichen Fehltritten einzunebeln, wird hier zur Unfähigkeit, überhaupt noch einen Sinn dafür zu entwickeln, was in unserem Leben gut oder böse ist. Wo das aber geschieht, verwischen sich die Konturen unseres Daseins in lauter Gleichgültigkeit, in der es kein wirkliches Glück und auch kein wirkliches Leid mehr gibt.

"Ich wäre gern ein Sünder gewesen" - das ist darum auch nur auf den ersten Blick ein witziger Geck eines Menschen von heute. Bei näherem Zusehen merken wir, dass es hier auch um den irgendwie traurigen Ausdruck des Empfindens geht, einfach nur durchs Leben zu rutschen, ohne dass uns einer fragt: "Wo bist Du"? Sünder - das wäre wenigstens die Möglichkeit, zum Stehen zu kommen, sein Antlitz zu zeigen und die Chance der Antwort: "Hier bin ich, das bin ich". Sünder - das würde auch die Frage nach einem neuen, anderen Anfang dieses Lebens sinnvoll machen. Noch nicht einmal mehr Sünder sein aber heißt: nur schiefe Ebene, nur Ausnutzen des Lebens ohne Horizont, nichts dafür taugen, mit diesem Dasein versöhnt zu werden. Noch nicht einmal Sünder sein, ist trostlos, weil es Menschen in ein horizontloses Leben stürzt.

Wie merkwürdig es auch klingt, liebe Gemeinde: Das Wort "Sünde" vor dem Zerfall zu bewahren, ist darum eine der wichtigsten Aufgaben der Christenheit. Die Meinung, es sei ein Wort zum Miesmachen und Erniedrigen von Menschen, greift ganz daneben. Es bringt vielmehr Stand in unser Leben inmitten von soviel Gleiten und Auseinanderfallen. Es schafft Horizonte, in denen wir immer noch mehr Zukunft haben, als auf unseren schiefen Ebenen.

Von solchen Horizonten kann allerdings keine Rede sein, wenn mit der "Sünde" etwas anderes angesprochen wird als unsere Flucht aus dem Lichte Gottes. Ohne Gott wird - wie wir gesehen haben - Sünde im Munde und in der Vorstellung von Menschen ein Alberwort, mit dem wir unsere reale Verfassung klein- und schönreden, die anderen Sünder aber umso kräftiger verdammen. Dagegen hilft dann auch nicht, dass uns die "Sünden der ganzen Welt" durch Presse und Fernsehen täglich frei Haus geliefert werden. Wer nichts von Gott versteht, kann sie ja noch nicht einmal als Sünden wahrnehmen.

Auch offenkundige Katastrophen, in die wir selbst verwickelt sind, werden uns in dieser Hinsicht kein Anlass, uns selbst etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Wir haben es ja in Deutschland nach dem Ende von zwei Diktaturen gesehen. Alle haben mitgemacht. Aber am Ende will es - wie Adam höchstselbst - keiner gewesen sein, der in der Gottesferne Übles, allzu Übles, schrecklich Übles an seinen Nächsten getan hat.

Wenn aber Gott im Spiel ist beim Sündigen und wir merken, dass er da ist und hören, dass er uns ruft, dann wird es ganz unsinnig, sich aufs Rausreden und Verdrängen zu verlegen. Was vor Menschen - dieser Connection von Sündenverharmlosern - so gut klappt, ist vor dem, der alles sieht, nur noch absurd; mehr noch, es ist blind für Gottes Art, uns aus der Gottesferne zurück zu holen. Vielleicht erwarten wir ja ein grelles, unbarmherziges Licht, das uns zu unserer Beschämung ausleuchtet bis in den letzten verborgenen Winkel, so dass wir uns wie Dreck vorkommen, von dem wir genommen sind, und nicht wie Menschen.

Stattdessen aber treffen wir den Gott, der uns nicht aufgegeben hat auf unseren eigenen Wegen. Er ruft uns nicht nur hinterher. Er kommt uns von ganz unten auf der schiefen Bahn entgegen, (reitend auf einer Eselin) gleichsam wie mit ausgebreiteten, auffangenden Armen. Er ist mit dem Kreuz gezeichnet von den Schlägen, die Menschen, die wir, die alle Menschen austeilen. Kleingemacht und verniedlicht wird hier gar nichts, was wir, was alle Menschen in der Gottesferne tun und anrichten. Wir können es in ihm anschauen.

Aber wenn wir dorther mit seinen Augen unsere Talfahrt ins Dunkle ansehen, siehe, da sind Menschen, vor denen sich - weil Gott im Wege steht - ein grader Weg auftut, der dem Runterrasen in den großen Schlund der Gottesferne Halt gebietet, besser Halt gibt. Was kümmert's da, dass die einen sagen: "Ich glaube doch gar nicht an Gott. Ich will ein Kind des nichtigen Schlundes sein"?! Was kümmert's, dass die anderen sich beschweren, weil Gott uns so sanft und vorsichtig von den Wegen der Sünde holt und uns nicht in heiligem Zorn mit ein paar Sprengsätzen zerschmettert?

Wenn es wenigstens einer ist, der sich für alle niemals damit abfindet, dass uns das menschliche Antlitz im Grauen vor uns selbst untergeht, dann ist das doch eine Bastion unserer Menschlichkeit! Wenn es wenigstens einer ist, der den Opfern menschlichen Wahns eine Möglichkeit gibt, auch den schlimmsten Übeltäter noch als Gottes Geschöpf und nicht als Teufel wahrzunehmen, dann ist das doch ein Hoffnungssignal für die Menschheit! Wie kommen wir nur darauf, dass wir uns für das Kreuz Jesu Christi zu entschuldigen haben, als sei es ein dunkler Fleck im Glauben der Christenheit? Solange Gott mit diesem Kreuz Menschen entgegen kommt, schließen sich doch die dunklen Abgründe, welche die Sünden der ganzen Welt im Leben eines jeden Menschen aufreißen. Solange Gott mit diesem Kreuz auf unseren Wegen unterwegs ist, ist keiner von uns verloren. Amen.