Der Totentanz
von Pest, Tänzen, Bildern und Musik
Nur eine kurze Geschichte des Totentanzes - eine ganz kurze - kann dieser Text geben. Die Materie ist kompliziert, und vieles ist der Forschung bis heute verborgen geblieben.
Lassen wir die alten Ägypter und andere Kulturen aus, beginnt unsere Geschichte des Totentanzes im Mittelalter zur Zeit der großen Pest.
Von 1347 bis 1353 starb etwa ein Drittel der europäischen Bevölkerung an den Folgen von Pest, Unterernährung und Mißernte. Pestkranke wurden in ihren Häusern eingemauert, angeblich sogar lebendig begraben, Hexenverbrennungen gehörten zur Tagesordnung.
In dieser Zeit kam es an verschiedenen Orten in ganz Europa, besonders aber im deutschsprachigen Raum, zur sogenannten "Tanzwut"; weite Kreise der Bevölkerung wurden von einer exzessiven Vergnügungs- und Genußsucht befallen, "die mit ihren nervösen Krankheitserscheinungen und sexuellen Ausschreitungen weite Kreise beunruhigt und zu öffentlicher Kritik herausgefordert hat".
In Italien entstand damals z.B. die Tarantella, ein wilder Tanz, dessen Extase angeblich durch den Stich einer Tarantel hervorgerufen wurde, wohl aber eher auf die Tanzwut zurückzuführen ist.
Was hat dies mit dem Totentanz zu tun? Einige Berichte beschreiben Situationen, in denen sich Menschen im wörtlichen Sinn zu Tode getanzt haben; ein sicher schreckliches Bild, das sich bot, und als Erklärung einen Tanz mit dem - für die anderen unsichtbaren - Tod nahelegte.
Auch die Obrigkeit hatte zwei wichtige Gründe, die zur Entstehung der Totentänze führten:
Erstens der egalisierende Aspekt des Todes, vor dem alle gleich sind; ja, der in den alten Darstellungen den Armen immer etwas freundlicher gegenübertritt als den Mächtigen und Reichen. So hatten die Totentänze eine gradezu stabilisierende Funktion in der mittelalterlichen Ständegesellschaft, indem sie auf eine später folgende Gerechtigkeit verwiesen.
Zweitens die Funktion, zum gottgefälligen Leben aufzurufen. Der Tod kündigt in den alten Dialogen meist an, wohin der Weg führen wird: zum Gericht. Und dort gibt es im Mittelalter nicht nur die Möglichkeiten Himmel oder Hölle, sondern auch das im 12. Jahrhundert als Idee aufgekommene "Purgatorium", das Fegefeuer, in dem für Sünden gebüßt werden muß.
Um beide Aspekte der einfachen Bevölkerung nahezubringen, war eine Darstellung mit eindringlichen Bildern und einfachen, gereimten Texten ein optimales Medium.
So hatte der Totentanz im Mittelalter einen starken Bezug zum Leben, indem er zu einem Leben in der "gottgegebenen" Ordnung aufrief; zu einem "sündenfreien" Leben in dem Stand, in den man hineingeboren war, und den niemand verlassen konnte.
In der heutigen Zeit steht im Zusammenhang mit dem Totentanz mehr der Gedanke des Sterbenmüssens Vordergrund. "Herr, lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, damit wir klug werden", sagt die Bibel dazu.
In diesem Zusammenhang sind auch einige Vertonungen des Totentanzes entstanden. Am bekanntesten sind die "Deutschen Sprüche von Leben und Tod" von Leonhard Lechner (1606) und der "Totentanz" von Hugo Distler (1934-41). Während Lechner nur Denksprüche zu Leben und Tod vertont hat, finden sich bei Distler gesprochene Dialoge nach dem mittelalterlichen Lübecker Totentanz (1463) in Kombination mit gesungenen Passagen, deren Texte dem "Cherubinischen Wandersmann" von Angelus Silesius (1657) entnommen sind.
[Ingo Schulz]
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