Das ist keine Kirchenmusik für euch Deutsche, meine heiligste Musik ist doch nur immer semi seria [= teils heitere, teils ernste Opernmusik], sagte Rossini im Zusammenhang mit seiner Petite Messe solennelle.
Die Petite Messe solennelle, neben dem Stabat Mater die zweite große kirchenmusikalische Schöpfung Gioacchino Rossinis, entstand im Jahre 1863 in Passy, einem damaligen Vorort von Paris. In dieser von jeher bevorzugten Pariser Sommerfrische berühmter Gelehrter und Künstler hatte der noch immer hoch angesehene Komponist, der 1855 nach fast zwanzigjährigem Italienaufenthalt wieder in die französische Metropole zurückgekehrt war, eine Villa erworben, die rasch zu einem begehrten gesellschaftlichen und künstlerischen Treffpunkt wurde. Hier empfing Rossini Persönlichkeiten des internationalen Musiklebens, darunter Richard Wagner, Max Maria von Weber, Ignaz Moscheles und Eduard Hanslick, die die objektiven Ansichten über die Musik der Gegenwart und die noch immer aktuellen Gedanken des inzwischen 70-jährigen berühmten italienischen Komponisten zu schätzen wußten. In Passy begann Rossini, der mit dem Wilhelm Tell - 37-jährig! - sein Opernschaffen für beendet erklärt und in der Folgezeit nur noch wenige Werke veröffentlicht hatte, nach langen Krankheitsjahren wieder verstärkt zu komponieren. Er schrieb eine Vielzahl kleiner, von ihm ironisch als "Sünden des Alters" (Péchés de vieillesse) benannte Stücke, komponierte als Auftragswerk die Hymne Napoléon und schuf als die leider letzte Todsünde seines Alters die Petite Messe solennelle.
Sie war nach außen hin in gewisser Weise ein Gelegenheitswerk, geschrieben für die Einweihung der Privatkapelle des mit Rossini befreundeten Pariser Adeligen Graf Michel-Frédéric Pillet-Will. Dessen Frau, der Comtesse Louise Pillet-Will, wurde die Petite Messe solennelle denn auch gewidmet und in dessen Pariser Haus in der Rue Moncey fand am 14. März 1864 in privatem Rahmen und nur vor geladenen Gästen die erfolgreiche Uraufführung der Messe statt. Vielleicht waren es diese räumlichen Verhältnisse, die Rossini zu der auf den ersten Blick etwas ungewöhnlichen, in der französischen Meßtradition aber durchaus beliebten Begleitung mit Klavier und Harmonium bewegten. Der Eintrag auf dem ersten Titelblatt des autographen Manuskriptes, Petite Messe Solennelle a quatre Parties avec accompagnement de Piano et Harmonium, legt es dabei nahe, daß die instrumentale Begleitung der Messe zunächst nur für ein Piano und Harmonium gedacht war. Erst auf dem nachfolgenden zweiten Titelblatt fordert der Komponist ausdrücklich als begleitendes Instrumentarium 2 Pianos et Harmonium (Diesen Umstand machen sich heutige Aufführungen oft zu Nutzen, indem sie auf das zweite Klavier, das ohnehin an vielen Stellen pausiert und meist den Part des ersten verdoppelt, verzichten). Gleichzeitig verweist Rossini hier in der für ihn bezeichnenden ironisch-spöttischen Art auf den Symbolgehalt der für die Aufführung der Messe benötigten Sängeranzahl:
"12 Sänger von drei Geschlechtern - Männer, Frauen und Kastraten werden genug sein für ihre Aufführung, d.h. acht für den Chor, vier für die Soli, insgesamt aIso 12 Cherubine.
Lieber, Gott, verzeih mir die folgende Gedankenverbindung: 12 an der Zahl sind auch die Apostel in der berühmten Freßszene [coup de mâchoire] gemalt im Fresco von Leonardo, welches man Das letzte Abendmahl nennt; wer würde es glauben! Es gibt unter Deinen Jüngern solche, die falsche Töne anschlagen!! Lieber Gott beruhige Dich, ich behaupte, daß kein Judas bei meinem Mahle sein wird, und daß die Meinen richtig und mit Liebe Dein Lob singen werden..."
Trotz des "Gelegenheitscharakters" aber war die Petite Messe solennelle ein höchst persönliches, von Rossini in erster Linie für sich selbst komponiertes Werk: composée pour ma villegiature de Passy, lautete der Eintrag auf dem zweiten Titelblatt und neben die Schlußtakte des Agnus Dei schrieb Rossini in sein Manuskript die Worte:
"Lieber Gott - voilà, nun ist diese arme kleine Messe beendet. Ist es wirklich heilige Musik [musique sacrée], die ich gemacht habe oder ist es vermaledeite Musik [sacrée musique]? Ich wurde für die Opera buffa geboren, das weißt Du wohl! Wenig Wissen, ein bißchen Herz, das ist alles. Sei also gepriesen und gewähre mir das Paradies."
Eine Widmung eigentümlicher Art, echt Rossini mit ihrem humorvollen Wortspiel "musique sacrée" - "sacrée musique". Doch war das wirklich nur Humor? Könnte sich dahinter nicht auch eine Anspielung auf jenes Unverständnis verborgen haben, mit dem vor allem von deutscher Seite seinen (wie den meisten italienischen) kirchenmusikalischen Schöpfungen begegnet wurde? Zu opernhaft, zu weltlich, zu sinnlich, zu spielend für den geistlichen Stoff, zu leicht, zu angenehm, zu unterhaltend und damit dem ehrwürdigen Text gleichsam Hohn spottend erschienen Rossinis geistliche Werke dieser Seite, die nicht wahrhaben wollte, daß es auch eine andere Art Kirchenmusik geben konnte, verwurzelt in anderer Tradition, deswegen aber nicht weniger ernsthaft als Musik zum Lobe Gottes gedacht. Das ist keine Kirchenmusik für euch Deutsche, meine heiligste Musik ist doch nur immer semi seria, sagte Rossini im Zusammenhang mit seiner Petite Messe solennelle einst zu Hanslick, wohl wissend, daß für ihn zwischen heiligster Musik und semi seria kein Widerspruch bestand und daß an seiner Ernsthaftigkeit nicht zu zweifeln war. August Wilhelm Ambros war der erste, der dies auch der deutschen Seite klarzumachen versuchte: Es war ihm Ernst, aber sein Ernst war eben Heiterkeit aus einem durch und durch liebenswürdigem Gemüth. Besteht ja doch der Morgengottesdienst der Lerche darin, daß sie, wie der Dichter sagt, an "ihren bunten Liedern aufsteigt" - zum Himmel!
Seine Messe hat Rossini wie alle in seinen letzten Jahren entstandenen Kompositionen gehütet und einer Veröffentlichung bewußt entzogen. Erst nach seinem Tode konnte das Werk durch den Pariser Verlag Brandus & Dufour der Öffentlichkeit übergeben werden, neben der Originalfassung auch in einer Fassung für Soli, Chor und Orchester, in der das berühmte Prélude religieux des Originals allerdings nicht mehr enthalten ist. Rossini hatte diese Orchesterversion im Jahre 1867 ausgearbeitet, gedrängt von Freunden, die verlangten, daß ich sie orchestriere, damit sie später in einer großen Basilika aufgeführt werden kann; gedrängt auch von der Pariser Musikkritik, die nach der öffentlichen Aufführung vom 15. März 1864 das originale Instrumentarium eher für provisorisch hielt und meinte, daß, wenn die Messe erst orchestriert sein würde, sie genug Feuer spenden werde, um Kathedralen aus Marmor zum Schmelzen zu bringen; und gedrängt schließlich auch von der Sorge, daß nach seinem Tode ein Anderer diese Aufgabe übernehmen und dabei das Werk entstellen könnte. Der deutsche Komponist Emil Naumann, der Rossini 1867 während der Arbeit an der Orchesterversion der Messe besuchte, erinnert sich an ein diesbezügliches Gespräch mit dem Komponisten:
Nach den ersten [...] Begrüßungen [...] sagte der Meister, auf das noch nasse Manuskript weisend: "Sie finden mich bei der Vollendung einer Komposition, die ich dazu bestimmt habe, unmittelbar nach meinem Tode aufgeführt zu werden. [...] Oh glauben Sie nur nicht, daß ich meine kleine Komposition vollende, weil ich den Kopf hängen lasse und mich mit Sterbegedanken trage; es geschieht nur, um dem hiesigen Herrn Sax und seinen Freunden nicht in die Hände zu fallen. Ich führte nämlich die Partitur dieser bescheidenen Arbeit schon vor einiger Zeit aus; findet man dieselbe nun in meinem Nachlaß, so kommt Herr Sax mit seinen Saxophonen oder Herr Berlioz mit anderen Riesen des modernen Orchesters, wollen damit meine Messe instrumentieren und schlagen mir meine paar Singstimmen tot, wobei sie auch mich glücklich umbringen würden. [...] Ich bin daher nun beschäftigt, meinen Chören und Arien in der Weise, wie man es früher zu tun pflegte, ein Streichquartett und ein paar bescheiden auftretende Blasinstrumente zu unterlegen, die meine armen Sänger noch zu Worte kommen lassen.
Doch scheint Rossini selbst die Originalfassung bevorzugt und höher eingeschätzt zu haben als die Orchesterfassung. In einem Brief an Franz Liszt schrieb er im Juni 1865, zwei Monate nachdem die Petite Messe solennelle in ihrer Originalgestalt nochmals im Hause Pillet-Will erklungen war:
"Apropos Musik, ich weiß nicht, ob Euch bekannt ist, daß ich eine Messa di Gloria für vier Stimmen komponiert habe, welche ihre Aufführung im Palast meines Freundes Graf Pillet-Will hatte. Diese Messe wurde aufgeführt von tüchtigen Künstlern [...] und begleitet von zwei Klavieren und einem Harmonium. Die führenden Komponisten von Paris (einbegriffen mein armer Kollege Meyerbeer, der nicht mehr unter den Lebenden weilt), haben mich - entgegen meinem Verdienst - sehr gelobt. Man will, daß ich sie instrumentiere, damit sie dann in irgendeiner der Pariser Kirchen aufgeführt werden kann. Ich habe Widerwillen, solche Arbeit zu übernehmen, weil ich in diese Komposition all mein kleines musikalisches Wissen gelegt habe und weil ich gearbeitet habe mit wahrer Liebe zur Religion."
Man hat die Petite Messe solennelle verschiedentlich matter und schwächer empfunden als das 22 Jahre zuvor komponierte und sich stets höherer Beliebtheit erfreuende Stabat Mater. Was den äußeren Eindruck der Messe betrifft, so mag diese Ansicht zu einem gewissen Teil zutreffen. Die Petite Messe hat nicht jene zerplatzenden Feuerwerkskünste, jene ewige Holdseeligkeit und unverwüstliche Milde des Stabat Mater. Über ihrer Musik liegt ein Zug von Nachdenklichkeit und Wehmut, selbst in der Tenorarie "Domine Deus", dem Gegenstück zur Tenorarie "Cujus animam" des Stabat Mater. Das Innere der Messe aber bietet für eine derartige Beurteilung keinerlei Ansatzpunkte. Im Gegenteil: Schon in den ersten Stellungnahmen wurde die harmonische Originalität und Progressivität der Messe als eine neue Facette des Rossinischen Schaffens hervorgehoben und Erstaunen über die kompositorische Ökonomie geäußert, die sich im Werk bei allem Überfluß an schönen Melodien bemerkbar macht. Auch einen bedeutenden Fortschritt in technischer Hinsicht sah man in dieser Messe, vor allem in Hinblick auf die kontrapunktische Kunst von Rossini; von jenem Rossini, der einst zu dem Musikgelehrten Fétis sagte, er habe keine Lust mehr, das Studium von Fuge und Kontrapunkt wiederaufzunehmen, der in seinen letzten Jahren aber Johann Sebastian Bach intensiv studierte:
"Ich bin auf die große Gesamtausgabe seiner [Bachs] Werke subskribiert. Hier, Sie sehen gerade auf meinem Tisch den letzten erschienen Band. Soll ich ihnen bekennen, daß der Tag, an dem ein neuer Band ankommt, selbst für mich noch ein Tag unvergleichbarer Freude ist?"
Den geistigen, belebenden anregenden Hauch dieses Meisters glaubte denn auch August Wilhelm Ambros in der Petite Messe solennelle zu verspüren, insbesondere in den Fugen des Gloria und Credo, jenen reizenden, geistreichen Sätzen, um deren Factur jeder Contrapunktist ihren Schöpfer beneiden darf, sowie im Prélude religieux, einem meisterwürdigen Stück [...] zu dem der alte Sebastian beifällig lächeln würde. Und neben all diesem technisch Neuem war es immer wieder die Intensität des musikalischen Ausdrucks, die expressive Kraft der Musik dieser Messe, die bewundert wurde und eines deutlich signalisierte: Die Petite Messe solennelle war das Werk eines Komponisten, der sich nach außen hin in seinen ironischen Späßen gefallen haben mag, der in seiner Musik hier aber die Hoffnungen, Freuden und Ängste eines Menschen ausdrückt, für den aufrichtiger Zweifel und mit diesem eine gewisse düster brütende Melancholie Bestandteil eines Glaubens ist, an dem er unabdingbar festhält".
Den Text der Messe hat Rossini um das O salutaris hostia erweitert, einen Textausschnitt der heute in der Liturgie nicht mehr verwendeten Hymne Verbum supernum aus dem älteren römischen Antiphonale. Ein weiterer Einschub, das Prélude religieux mag mit einem Seitenblick auf Beethovens Missa solemnis entstanden sein, in der vor dem Benedictus ein Präludium des Orchesters eingefügt ist.
[nach Klaus Döge]