Messa di Gloria

 

Die Texte entstanden anlässlich eines Konzertes am 19. und 20.11.2004 in der Emmaus-Kirche und widmen sich kurz folgenden Werken:

Giacomo Puccini (1858-1924): Crisantemi (Fassung für Streichorchester: Lucas Drew, 1991)

Giacomo Puccini: Requiem

Giuseppe Verdi (1813-1901): Ingesmico, Confutatis und Dies irae aus dem Requiem
(Fassung für Kammerorchester: Ingo Schulz, 2004)

Giacomo Puccini: Requiem (Fassung für Streichorchester: Ingo Schulz, 2004)

Giacomo Puccini: Messa di Gloria (Fassung für Kammerorchester: Ingo Schulz, 2004)


Verkanntes Genie oder genialer Dilettant?

"Kein Künstler hat jemals solche Popularität, und zwar dauernde Popularität, unter Kunstliebhabern erlangt,ohne Überragendes geleistet zu haben. Puccinis Genialität hat enge Grenzen, aber er hat stets das Beste aus seiner Begabung zu machen verstanden."
(H. Greenfeld)

Dies ist eine der eher positiven Zusammenfassungen aus der Puccini-Literatur.
Wie nähert man sich einem Komponisten,
- der mit nur 20 Stunden Musik Millionär wurde, dabei Zeit seines Lebens immer unsicher und geizig blieb?
- der bis 1924 tonale Belcanto-Melodien schrieb, andererseits aber allen neuen Entwicklungen großes Interesse entgegenbrachte (nach der Erstaufführung von Schönbergs "Pierrot lunaire" in Italien, zu der Puccini 6 Stunden Reise auf sich nahm, war er der einzige, der nach dem Konzert Schönberg in der Garderobe aufsuchte, um sich zu bedanken)
- der von den "Neuen der ersten Reihe" ignoriert wurde ("Die Musik und das Theater Puccinis haben mich nie besonders interessiert." [L. Nono] / "Puccini geht mich nichts an" [L. Berio] / "... ich denke über Puccini überhaupt nichts" [P. Boulez]
- der von den "Neuen der zweiten Reihe" durchaus beachtet wurde (R. Leibowitz, R. Vlad, S. Bussotti und andere sahen in Puccinis Werk Kompositionsverfahren der Moderne, die auf der Höhe der Zeit waren)
- der keine Fremdsprachen beherrschte, sich auch kaum Mühe gab und deshalb im Ausland immer litt
- der der Enge seiner Heimat durch Reisen, schnelle Autos und Motorboote zu entkommen versuchte, aber immer wieder sofort vom Heimweh gepackt wurde und seine Häuser ausschließlich im Umkreis von 15 km um seinen Geburtsort Lucca kaufte


Verwirrung?

Anton von Webern schrieb nach einer Aufführung von Puccinis "Fanciulla del West" an seinen Lehrer Arnold Schönberg: "[...] eine Partitur von durchaus ganz originellem Klang. Prachtvoll. Jeder Takt überraschend. Ganz besondere Klänge. Keine Spur von Kitsch! [...] Ich muß sagen, daß es mir sehr gefallen hat. Wie ist es nun? Irre ich mich so ganz und gar?"

Die Analyse

"Puccinis Charakterstruktur und seine chronischen depressiven Phasen lassen sich aus einem ungelösten Konflikt seiner Kindheit erklären. In seiner oralen Phase entstand durch mangelnde Zuneigung der Mutter ein ambivalent besetztes Mutterbild, das eine Liebesunfähigkeit zur Folge hatte. Dieser primäre Ambivalenzkonflikt wurde durch den Tod des Vaters in der ödipalen Phase verstärkt und prägte nun entscheidend sein Frauenbild [...].
Puccinis Musik ist eine subjektivistische, die dem neurotisch geschädigten Gemüt des Komponisten entsprang [...].
Dies spricht den Zuhörer an, weil es wohl kaum einen Menschen gibt, der nicht in sich gewisse neurotische Züge spürt [...].
Das Werk des letzten großen italienischen Opernkomponisten wäre ohne seine psychische Störung wohl nicht in dieser vom Publikum und der Fachwelt akzeptierten Form entstanden." (Stefan Demel / Gernot Demel)

Die Musiker-Familie

- Giacomo Puccini (1712-1781)
- Antonio Puccini (1747-1832)
- Domenico Vincenzo Puccini (1771-1825)
- Michele Puccini (1813-1864)
- Giacomo Antonio Domenico Michele Secondo Puccini (1858-1924)
stammte aus den Bergen bei Lucca. Seit Giacomos (I) Musikstudien in Bologna sind die Ämter des Stadtorganisten und des Leiters des Stadtorchesters in Lucca für 125 Jahre fest in der Hand der Familie. Giacomo aber bricht aus; 1876 beschließt er, Opernkomponist zu werden; er studiert 1880-83 in Mailand und beginnt wirklich, ausschließlich Opern zu schreiben, und erlangt allein aus den Aufführungs-Tantiemen und dem Notenverkauf einen für Komponisten vorher wie nachher unvorstellbaren Reichtum (er soll 1924 über 5 Millionen Dollar hinterlassen haben!). Sein Geld hielt er immer beisammen, nur für Häuser (alle in der Toscana), Motorräder, Autos und Motorboote gab er viel, sehr viel Geld aus.

Doch es begann anders:

- der Vater starb früh und die Mutter musste die Familie mit den acht Kindern allein durchbringen
- Giacomo fiel eher durch schlechte Schulleistungen auf
- mit zehn Jahren wurde Giacomo Chorknabe, mit 14 Organist an verschiedenen Kirchen in Lucca
- doch der "...zukünftige Maestro legte den ausgeprägtesten Hang zum Nichtstun an den Tag, was er durch mehrere Jahre mit ersichtlichem Erfolg durchsetzte."

Der Umschwung

- 1880 schrieb Puccini eine Messe für Soli, Chor und Orchester und beendete damit sehr erfolgreich seine Studien am Institutio Musicale in Lucca
- 1883 beendete er sein Studium in Mailand mit dem "Capriccio Sinfonico"
- 1884 entstand "Le Villis"
- 1886 Geburt des Sohnes Antonio (mit Elvira, der Frau eines Lucchesischen Großwarenhändlers, die er erst 1904 nach dem Tod ihres Mannes heiraten konnte)
- 1889 "Edgar"
- 1890 "Crisantemi"
- 1893 "Manon Lescaut"
- 1896 "La Bohème"
- 1900 "Tosca"
- 1904 "Madam Butterfly"
- 1905 "Requiem" zu Verdis 4. Totengedenktag (Privataufführung in der Casa di Riposo)
- 1910 "La Fanciulla del West" (Uraufführung in New York!)
- 1917 "La Rondine"
- 1918 "Il Trittico"
- 1924 Puccini stirbt an Herzversagen während einer Kehlkopfkrebs-Behandlung in Brüssel
- 29.12.1924 Toscanini dirigiert im Mailänder Konservatorium ein Gedenkkonzert u.a. mit dem "Requiem" von 1905 (die erste öffentliche Aufführung des Werkes)
- 1926 Uraufführung "Turandot", Toscanini bricht an der Stelle ab, an der Puccini nicht weiter komponiert hatte. Erst am nächsten Tag wird das Werk mit der Vervollständigung durch Franco Alfano gespielt

Die Werke

Crisantemi (Chrysanthemen), 1890 original für Streichquartett geschrieben, ist eine der wenigen Gelegenheitskompositionen Puccinis. Die Elegie für Amadeo di Savoy, Herzog von Aosta, hat Puccini nach eigenen Angaben in einer Nacht komponiert. Das kurze Werk, das sich durch emotionale Intensität auszeichnet, wurde kurz darauf mit großem Erfolg im Konservatorium und in Brescia aufgeführt. Vier Jahre später benutzte Puccini Motive aus dem Streichquartett für die Szene von Manons Verhaftung und Deportation in der Oper "Manon Lescaut".

Requiem
1905 schrieb Puccini ein Requiem, bestimmt zur Aufführung am 27. Januar, Verdis viertem Todesgedenktag. Das Werk wurde am Ende einer Trauermesse in der Kapelle des von Verdi gestifteten Mailänder Altenheims für Musiker, der Casa di Riposo, in einer geschlossenen Veranstaltung uraufgeführt. Für das kurze Requiem in der Besetzung Chor, Soloviola und Orgel oder Harmonium, das zu Puccinis Lebzeiten wohl nie wieder gespielt und auch nicht veröffentlich wurde,hat Puccini nur einzelne Textpassagen der Totenmesse vertont.
Die zweite Aufführung des Requiems fand unter Toscaninis Leitung ebenfalls bei einer Gedenkveranstaltung statt: bei der Trauerfeier für Puccini im Mailänder Konservatorium.

Messa di Gloria
Die Messe von 1880 markiert das Ende von Puccinis Lehrzeit in seiner Heimatstadt Lucca. Nach einer hochgelobten Aufführung am 12. Juli 1880 wurde das Werk allerdings nie wieder gespielt. Ob dies Zufall war, oder ob Puccini das Jugendwerk eher verstecken wollte, oder ob gar - wie manche Biographen meinen - die katholische Kirche dahintersteckt, der die Messe zu weltlich war, lässt sich nicht sicher beantworten. Erst 1950 wurde das Stück durch den amerikanischen Priester Dante del Fiorentino wieder ans Licht gebracht, der es bei Forschungsarbeiten zu einer Biographie entdeckte. Er gab ihm den Titel "Messa di Gloria" und veröffentlichte es.
Die Meinung der Biographen zur Messe ist eher zurückhaltend; vom vernichtenden Urteil "Konfektionsware, wie sie in Italien und anderswo massenhaft produziert wurde" bis zu "allein die Messa weist von den Frühwerken auf das kommende Genie hin" geht die Spannbreite. Eine Meinung, die sich nicht mit dem heutigen Empfinden deckt. Über zehn verschiedene, aktuell erhältliche CD-Einspielungen und etliche Aufführungen bescheinigen dem Werk eine große Beliebtheit.
"Keineswegs vermittelt die Messe den Eindruck jugendlicher Spontaneität und Frische - kaum eine Stelle, an der sich bereits an den späteren Puccini denken ließe." (D. Schickling).
"Das Werk strotzt vor frischer, jugendlicher Spontaneität der Erfindung und bietet ein gutes Bild von Puccinis Begabung und Rang als Kirchenkomponist." (M. Carner)
Das Credo der Messe wurde schon 1878 aufgeführt, die anderen Sätze scheinen neu komponiert worden zu sein, auch wenn manche Biographen eine ältere Motette im Kyrie entdecken wollen. Glaubhaft scheint allerdings die Vermutung zu sein, dass Puccini in Zeitnot geriet, da der Aufführungstermin zum Fest des Heiligen Paolino feststand. So könnte sich die Kürze des "Sanctus" erklären lassen. In diesem Zusammenhang ist es auch möglich, dass das stilistisch abweichende "Agnus" auf eine ältere Komposition zurückgeht.
Das "Kyrie" verwendet Puccini später im "Edgar", das "Agnus" erklingt als Tanz-Madrigal im zweiten Akt von "Manon Lescaut".
Die heute erklingende Fassung für Kammerorchester versucht, die "Messa di Gloria" für "kleinere Verhältnisse" aufführbar zu machen. Es wurde versucht, die große sinfonische Orchesterbesetzung, die ja auch einen entsprechend großen Chor (und viel Geld) erfordert, ohne allzu starken Eingriff in das originale Klangbild auf ein Kammerorchester zu übertragen. Aus 17 Bläsern wurden 7 und entsprechend konnte auch die Anzahl der Streicher reduziert werden, so dass statt eines Orchesters mit 50 Personen nun weniger als die Hälfte für eine Aufführung ausreicht.
Vielleicht wird ja der "Messa di Gloria" durch diese Bearbeitung der weitere Weg trotz allgemeiner Finanznot erleichtert.

Giuseppe Verdi: Requiem
Die Idee, Teile aus Verdis Requiem für dieses Konzert zu bearbeiten, ergab sich unter anderem aus dem immer zitierten Satz der Biographen, Puccini habe gegenüber Verdi nichts Neues vollbracht. Im direkten Vergleich der Requiem-Kompositionen, aber auch im Vergleich Verdi-Requiem/Puccini-Messa wird diese Behauptung klar widerlegt.
Ein schöner Nebeneffekt dieser Kombination ist es, dass Tenor- und Bass-Solo auf diese Weise etwas mehr zu singen haben.
Der Versuch, Teile des Verdi-Requiems mit einer so kleinen Orchester-Besetzung zu spielen, scheint mir noch immer sehr gewagt; Verdis Werk braucht insgesamt die sehr große originale Orchesterbesetzung, die die geforderten Klangmassen auch zustande bringt. Für den von mir gewählten Ausschnitt aber glaube ich eine gute Lösung gefunden zu haben. Für das ganze Requiem klappt das - leider - nicht.
Puccinis Requiem, geschrieben zu Verdis Todesgedenktag, rahmt nun Teile von Verdis Requiem ein. Inhaltlich wie klanglich ist diese Begegnung spannend. Besonders der Schritt von Verdis Klangausbrüchen beim "Dies irae" zum stillen, schlichten Werk Puccinis macht klar: Hier ist etwas Neues, etwas gänzlich anderes entstanden.

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