"Würde der Mensch nicht von Zeit zu Zeit souverän die Augen schließen, er sähe zu guter Letzt nicht mehr, was angesehen zu werden verdient." In Analogie zu diesem Satz aus "Hypnos" von René Char ließe sich auch sagen, daß der Mensch - und nicht zuletzt der Komponist - von Zeit zu Zeit souverän die Ohren verschließen muß, um noch etwas zu hören, was angehört zu werden verdient.
Arvo Pärt muß es gelungen sein, die Ohren so lange vor der Welt des Tumults, vor der Welt der Exzesse und der Explosionen zu verschließen, bis sie sich ihm ergab: die Musik der Gegenwelt.
Von sehr weit her kommt diese Musik. Hat man sie nicht schon in den gotischen Domen vernommen und in romanischen Kathedralen, in den römischen Katakomben oder der Löwengrube Daniels? Es ist eine Musik, die nicht überredet, nicht überwältigt, nicht aufbegehrt, nur auf ihrem Anderssein besteht, auf ihrem Abstand zu Aktion und auftrumpfender Aktualität; von sehr viel Verlorenem spricht sie - aber von noch mehr Verborgenem, also Unverlorenem.
Doch wie kam sie zu ihrer leuchtenden Ruhe, um welchen Preis ist ihre Reinheit erkauft? Nein, unversehrt ist sie nicht, im Gegenteil, sie kommt aus vollkommener Versehrtheit. Nur von diesem Schmerz-Urgrund aus kann überhaupt der Schritt hinüber gelingen, der Schritt in jene Sphäre vor dem Sündenfall in die unerbittliche Emanzipation des Subjekts, die zu erstreben uns die Kultur der Neuzeit anerzogen hat. "Ein Kunstwerk hat einen Urheber, und dennoch, wenn es vollkommen ist, eignet ihm etwas wesenhaft Anonymes; es ahmt die Anonymität der göttlichen Kunst nach" (Simone Weil).
"Der Abstand ist die Seele des Schönen." Die das schrieb, Simone Weil, wußte auch dies: "Wir haben keine Auswahl an Heilmitteln, es gibt nur eines, nur ein einziges Mittel macht die Monotonie erträglich, und das ist der Abglanz der Ewigkeit: die Schönheit." Wie für die französische Jüdin ist auch für den estnischen Komponisten diese Art der Schönheit, weil der Mensch sie so nötig braucht wie Brot, ein Sakrament.
Arvo Pärt berichtet über eine Begegnung:
"Ich habe einmal in der Sowjetunion mit einem Mönch gesprochen und ihn gefragt, wie man sich als Komponist bessern könne. Er antwortete mir, er wisse dafür keine Lösung. Ich erzählte ihm, daß ich auch Gebete schriebe, Musik zu Gebeten oder Psalmtexten, und daß dies mir als Komponist vielleicht helfen könne. Darauf sagte er: Nein, du irrst dich. Alle Gebete sind schon geschrieben. Du brauchst keine mehr zu schreiben. Das ist alles vorbereitet. Jetzt mußt du dich vorbereiten. - Ich glaube, darin steckt eine Wahrheit. Wir müssen damit rechnen, daß unsere Lieder eines Tages ein Ende nehmen. Vielleicht kommt auch für den größten Künstler der Moment, in dem er nicht mehr Kunst machen will oder muß. Und vielleicht schätzen wir gerade dann sein Schaffen noch höher ein; weil es diesen Augenblick gegeben hat, in dem er über sein Werk hinausgelangt ist."
[nach Peter Hamm]