Tilo Medek hat in seiner Passionskantate ausschließlich Texte von Rainer Maria Rilke vertont. Gruppiert um das zentrale Gedicht "Der Ölbaum-Garten", das Rilke im Mai/Juni 1906 schrieb, entsteht für den Hörer und Leser ein dichter, unmittelbarer Gesamteindruck, der ihn die Einsamkeit und Verlorenheit Jesu in Gethsemane mitvollziehen, zugleich aber auch seine eigene, existentielle Lebenssituation und die Allgemeinheit menschlicher Verlassenheit erleben lässt.
Die Textcollage, die ganze Gedichte oder Gedichtteile aufgreift und vom Stundenbuch (Buch der Pilgerschaft, 1901 und Buch von der Armut und vom Tode, 1903) bis zu späten Texten Rilkes reicht, lässt auf jeden Fall etwas Neues entstehen, eine Entwicklung, einen Weg, auf dem das Leid der Gottesferne, das Jesus in Gethsemane durchlebt, der Einsamkeit des Menschen in einer modernen, Gott fernen Gesellschaft korrespondiert - und das individuelle Leid von Gethsemane zur brennenden Frage nach Gott und dem Sinnbezug menschlichen Lebens werden lässt.
Seit Jean Pauls "Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab", seit Georg Büchners Dramen ist diese Frage in der deutschsprachigen Literatur anwesend. Wie der Todeskampf Christi nach einer Äußerung Pascals bis ans Ende der Welt dauern wird, und wir deshalb wachsam bleiben müssen, so ist auch die im Ölbaumgarten erfahrene Einsamkeit ein Erlebnis, das Menschen in ihrer eigenen Not und Verlassenheit mit der Todesangst Jesu bis heute verbinden kann. Darin liegt Trauer - Abschied von einer fraglosen Geborgenheit - aber auch die Gemeinschaft mit dem leidenden, seinen Passionsweg gehenden Christus. Das ist - und ich glaube, es ist fühlbar und hörbar in Tilo Medeks Werk - ein Anteil an zeitgenössischer Passionsfrömmigkeit, die viele Aspekte des Menschseins - persönliche und gesellschaftliche - einbezieht.
Der erste Text "Todeserfahrung", den Rilke 1907 zum Gedächtnis der Gräfin Luise Schwerin verfasst hat, stellt uns auf die Bühne des Lebens, auf der wir so oft nur unbeteiligt und äußerlich unsere Rollen spielen, bis eine wahrhaftige Trauer um den Tod eines geliebten Menschen unseren Horizont weitet - und uns jene Selbstvergessenheit schenkt, in der wir "hingerissen das Leben spielen" und meistern können. In den Abschnitten 2 und 3 beginnt Rilkes Ölbaumgartengedicht, das im Verlauf der Kantate in Abschnitten vollständig zitiert (s. Nr. 2, 3, 8, 13 und 15) und immer einem Solisten in den Mund gelegt - Jesus selbst gegenüber Gott seine Verlassenheit sprechen lässt. Ist dieser Gott ein Gott, der menschliches Leid erhören und das Schicksal unserer Verlorenheit teilnehmend zu seinem eigenen machen kann?
Diese bange Frage durchzieht das ganze Werk und wird in den Nummern 4-7 von sehr widersprüchlichen Stimmen festgehalten. Nr. 4, die sich auf die ewige Schönheit und Unberührtheit des antiken apollinischen Gottesbildes beruft, scheint sie zu verneinen. Nr. 5 aus Rilkes "Buch von der Pilgerschaft" stellt dem Ich Jesu das Ich des Gott suchenden Menschen gegenüber, der sich in die Gesamtheit der inständig insistierenden Beter stellt und Gottes Anteilnahme schier herbeizwingen möchte. Dem folgt in Nr. 6 eine Reflexion über unser "in kleine Schläge eingeteiltes Herz" und den großen Herzschlag Gottes, der in besonderen Augenblicken in uns einbricht. Seine plötzliche Gegenwart kann furchtbar sein, aber sie schenkt uns, was wir brauchen: "Wesen, Wandlung, Gesicht". - Nr. 7 nimmt diese bange Erwartung auf, fragt, ob unsere hinaufklingende Stimme den Himmel schwingen lässt oder schwindet...
Wieder erfahren wir die Gottverlassenheit Jesu in Gethsemane, die den Gedanken, "daß Gott nicht ist" im Gebet zu diesem Gott aussprechen kann (Nr. 8). Dieser Unerreichbarkeit Gottes für den Menschen entspricht der tiefe und erschreckende Gedanke des Schlafes Gottes, den unser Leid nur ganz von fern im Traum berührt (Nr. 10).
Aber was ist unser Leid? Ist es nicht unser uneigentliches Leben, unsere Entfremdung von der Tiefe des Seins im Dschungel der Großstädte (Nr. 11 und 12), nicht unsere sinnlose Flucht vor dem Gedanken an den Tod? Vor ihm, der uns reifen lassen sollte - und unser Leben zu einer persönlichen, unmittelbaren Erfahrung eigener Liebe und Not gestalten könnte? (Nr. 12 - Ende). Ist unser Elend nicht unsere Armut, in der wir die Gestalt unserer Erde verletzen, zergliedern und der göttlichen Gebärde des Schaffens und Lebendigmachens nichts entgegensetzen können? (Nr. 14)
In den Schlussteilen des Zyklus erreicht die Verlassenheit Jesu in Gethsemane und der unerhörte Schrei der Menschheit nach Gott (Nr. 15 und 16) ein erschreckendes Fazit: "Die Sich-Verlierenden lässt alles los" (Nr. 15), aber unsere Klage ins Angesicht des vermeintlich stummen Gottes hört nicht auf - sie geht weiter - sie wagt sich an die bange Frage: "Doch wie wäre denn die Klage mein?" (Nr. 17) [...]
Gewiss werden wir über so wenig Tröstliches betroffen sein. Aber Tilo Medeks Kantate macht Ernst mit der quälenden Erfahrung des Leidens. Sie endet offen. Sie stellt uns wie das Buch Hiob vor das Geheimnis unseres Lebens und fragt, ob wir uns ihm öffnen wollen.
Christa Leuze (München, 2000)