1979 rief mich Helmuth Rilling an, ob ich einen Auftrag für eine Quasi-Bach-Kantaten-Nachfolge annehmen wolle? Er hatte sich vorher "unauffällig" über mein Tun erkundigt gehabt.
Nachdem ich es geschafft hatte, keine verschimmelten Leipziger Kantatentexte schwacher Pastoren mit Hang zum "Höheren" vertonen zu müssen (obwohl ich das sollte), beschäftigte sich meine Frau mit dem Gesamtwerk Rainer Maria Rilkes, damit sie eine Montage um den "Ölbaumgarten" herum gruppiere.
Ich wählte ein Pendant zu Bachs "Magnificat" und hielt mich an dessen Instrumentarium, es allerdings mit Schlagzeug erweiternd.
Der Name "Gethsemane" (hebräisch: Ölbaumkelter, am Fuße des Ölbergs gelegen) ist in Beziehung zum Rilkeschen Zentraltext "Ölbaumgarten" frei gewählt geworden.
Im Rahmen der Internationalen Sommerakademie 1980 erklang das Werk dreimal unter der Leitung Helmuth Rillings in Stuttgart (ihm ist auch die Kantate gewidmet). Uraufführung: 3. August 1980 in der Stuttgarter Stiftskirche. [...]
Fragen der Stilistik mag ich bei einem solchen Projekt nicht stellen: es ist mit den Ohren meines Lehrers und seiner Freunde weitergehört, die in den zwanziger und dreißiger Jahren Bach für sich entdeckten: Bertolt Brecht, Kurt Weill, Rudolf Wagner-Régeny, Caspar Neher und Carl Orff.
Solisten, Chor a cappella und Vermischungen mit dem Orchester sind so gewählt, dass eine Dramaturgie hörbar werden soll. Selbst Ansätze einer "Handlung" sind auszumachen, obgleich epische Reflexion überwiegt.
Eine "Handlungsmodernität" ist mit der Nummer zwölf erreicht, wenn der Raubbau in den Städten angeklagt wird.
Unsere Entfremdung von der Natürlichkeit des Todes schließt sich dabei unmittelbar an. [...]
Die Einsamkeit der namentlich nicht genannten Christusfigur ist im Duett, der Nr. 13, zwischen "Ich" und einem &
148;Engel" in Jetzt-und-Zeit-danach simultan verzahnt, was die Sache besonders "anrührt".
Als ich bei einer öffentlichen Diskussion zur zweiten Aufführung im Rahmen der "Internationalen Sommerakademie Johann Sebastian Bach" in Stuttgart gefragt wurde, was an der Nummer drei "modern" sein soll, konnte ich mich nur wehren, indem ich auf etwas Höheres verwies, was im nackten Produkt an einer einzigen Stelle nicht auszumachen sei. Wenn ich heute darauf schaue, sehe ich den Kontrast zwischen den repetierenden Dreiklängen der Trompeten und dem komplizierten imitatorischen Zwischen- und Nachspiel für die gleichen Instrumente, dazu der zögerliche, fast stotternde Gesang der nicht so benannten Gottessohn-Figur als Tenorstimme.
Die Schlussnummer (Nr. 17) macht musikalisch aus der Christusfigur einen Aussätzigen, der durch Klanghölzer (wie ein Leprakranker in früherer Zeit) auf sein Erscheinen hinweisen will, denn "ich meine nicht , gehört zu sein."
Meine "Gethsemane"-Kantate hört gewissermaßen mit der Kenntnis Brecht-Weillscher Lehrstücke auf Bachs Kantaten und kümmert sich um eine weitestgehend ausgesparte Christus-Begebenheit, die uns Heutigen so wichtig geworden ist: der Zweifel im Garten Gethsemane, die Zwiesprache mit Gott, von Niemandem überliefert, weil die Evangelisten die entscheidende Nacht verschliefen:
"Später erzählte man: ein Engel kam -." [...]
[Textmontage aus einem Einführungstext für eine Sendung des WDR (11. April 1990, 9.05 Uhr) und dem Text "Über meine Kantate Gethsemane" vom 1. Februar 1998]