1934 entdeckte Orff die 1847 im Druck erschienenen Carmina Burana aus dem 12. Jahrhundert. Diese Handschrift aus Benediktbeuern enthält weltliche Lieder verschiedenster Art. Die Begegnung mit diesen Texten faszinierte Orff so sehr, daß ihn "Bild und Worte überfielen", wie er sich später erinnerte, und er noch am selben Tag den ersten Chorsatz "O Fortuna" skizzierte. Orff wählte aus den über 250 - oft vielstrophigen - Liedern einige wenige Texte aus, die dadurch in neue Zusammenhänge gerieten. "Der mitreißende Rhythmus, die Bildhaftigkeit dieser Dichtungen und nicht zuletzt die vokalreiche Musikalität und einzigartige Knappheit der lateinischen Sprache" fesselten ihn.
Als großes Symbol steht über dem ganzen Werk das Glücksrad der Fortuna. Das ewige Kreisen der Welt zwischen Glück und Unglück, Aufstieg und Niedergang vertont Orff mit wenigen, immerwiederkehrenden Mitteln in einem großen Chorsatz, der am Anfang und Schluß des Werkes steht. Der Mittelteil besteht aus einzelnen Bildern: "Uf dem Anger" - auf dem Dorfplatz; "In Taberna" - in der Schänke; "Cour d´Amour" - eine liebliche Musik voller Erotik. Zum Höhepunkt des Werkes werden Blanziflor, eine Heldin der französischen Rittersage, und Helena in einer einer mitreißenden Hymne auf die Liebe besungen.
In den Carmina Burana fand Orff seine eigene musikalische Sprache. Die mittelalterlichen Texte inspirierten ihn nicht zu Sehnsucht und Nostalgie, wie es noch in der Romantik, wenige Jahre früher, üblich war, sondern zu einer prall-sinnlichen Musik mit starker Vereinfachung in Rhythmik und Harmonik; ein Weg, der von Beobachtern mit Begriffen wie "zurück zum Elementaren", aber auch "Primitivismus" beschrieben wird. Wie so oft scheint die Wahrheit an einem undefinierten Punkt zwischen den Extremen zu liegen.
Die 1937 uraufgeführten Carmina Burana begründen Orffs weltweiten Erfolg und zählen zu seinen populärsten Werken.
Nach heutigem Stand der Forschung läßt sich - bei allen Gefahren, die eine solch extreme Verkürzung bietet - folgendes sagen: Orff wollte eine Karriere in Deutschland machen und er hat sie, wenn auch mit manchen Schwierigkeiten, gemacht. Er hat im nationalsozialistischen Deutschland gelebt und gearbeitet, er hat dieses System nicht gewünscht, aber er hat auch nichts dagegen unternommen (von einigen kritischen Texten in der Oper "Die Kluge" aus dem Jahre 1943 abgesehen).
Orffs einzige Auftragswerke für die Machthaber waren die Eröffnungsmusik zur Olympiade 1936, die im Land positiv aufgenommen wurde, und die Neuvertonung von Shakespeares Sommernachtstraum im Jahr 1939 als Auftrag des Frankfurter Oberbürgermeisters, die ihm viele Seitenhiebe von Kollegen und Freunden einbrachte (der Schweizer Komponist Sutermeister redete ihn danach mit "Lieber Herr Mendelssohn" an). Goebbels Auftrag aus dem Jahr 1944, eine "Kampfmusik" für die Wochenschau zu schreiben, entzog sich Orff.
Doch anfangs erging es ihm und seiner Musik nicht sehr gut. In der Weimarer Republik hatte er Brecht vertont, und seine Kontakte zu jüdischen Musikern und zur SPD waren kein Geheimnis. Durch Angriffe im "Kampfbund für deutsche Kultur" schien Orffs Werk in München Ende 1932 durch eine bevorstehende Machtübernahme Hitlers akut gefährdet. Die Uraufführung der Carmina Burana wurde lange hinausgezögert, und kaum gespielt, wurden sie von den Parteiorganen verrissen. Die "undeutsche" Musik und der lateinische Text zusammen mit dem "pornographischen" Inhalt reichten aus, auch auf andere Werke Orffs ein schlechtes Licht zu werfen. Wiederholungen in Dresden, München und Berlin wurden abgesagt, die Reichsmusikkammer ließ wissen, daß diese "bayerische Niggermusik" nicht erwünscht sei.
Doch ein echtes Verbot gab es nicht, und so kam es schon 1939 zu Aufführungen in Bielefeld und Frankfurt. Durch die Berufung von Orffs Schüler und Freund Werner Egk in die Reichsmusikkammer im Jahr 1941 entspannte sich die Lage für Orff merklich. Abgesehen von kleineren Problemen konnte sein Stern weiter steigen, bis sein Name 1944 auf einer für Goebbels bestimmten "Gottbegnadeten-Liste" auftauchte, was ihm Schutz vor Arbeitseinsatz und Wehrdienst einbrachte.
1945 wurde Orff von den Amerikanern als "gray unacceptable" eingestuft, was ein Ende seiner Arbeit bedeutete. Aus dieser Lage befreite er sich durch eine dreiste Lüge. Einer seiner ehemaligen Schüler, Newell Jenkins, war für die Einstufung der Kulturschaffenden in Württemberg zuständig, mischte sich jedoch im Fall Orff in die bayerischen Angelegenheiten ein. Ihm erzählte Orff nun, daß er zusammen mit Kurt Huber die Widerstandgruppe "Weiße Rose" begründet habe. Huber sei hingerichtet worden, Orff konnte in die Berge fliehen und dann nach München zurückkehren. Da keiner der Zeugen mehr lebte, ließ sich auf die Schnelle an dieser Geschichte nichts nachprüfen. Orff bekam seine weiße Weste und durfte wieder gespielt werden.
Zu diesem Aspekt und zum gesamtem Lebenslauf Orffs, der übrigens nach den NS-Rassegesetzen "Vierteljude" war, was aber offensichtlich die Behörden nie erfahren haben, schreibt Michael H. Kater (Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 1995 I): "Er hat sich angepaßt. Niemals nur im entferntesten Nationalsozialist, manipulierte er Menschen und Ideen, um ungestört schaffen zu können, sich die lästige Politik fernzuhalten und möglichst schadlos in einem Unrechtssystem durchzukommen, von dem er sich mit immer teurerer Münze hatte kaufen lassen, obwohl er es im Innersten verabscheute [...] Tragisch war für ihn, daß er sich innerhalb der politischen Rahmenbedingungen des Dritten Reiches etablieren mußte, die er ablehnte, die aber doch sein menschliches Verhalten im privaten und sozialen Bereich zum Negativen geprägt haben."
Schon 1966 wurden die Carmina Burana erstmals in Israel aufgeführt.
[Ingo Schulz]