Entstehung des Werks und Uraufführung:
spätestens 1735
Lebensdaten des Komponisten:
* 21. März 1685 in Eisenach
&
8224; 28. Juli 1750 in Leipzig
&
187;Jesu, meine Freude&
171; ist eine Begräbnismotette, das Auftragswerk für eine Begräbniszeremonie. Begräbnismotette? Theologisch geht es um die Auseinandersetzung mit der Tatsache des Sterbenmüssens, eine Thematik, die zu Bachs Zeit in frommer Dichtung vielfachen Ausdruck fand - manches davon für uns Heutige befremdlich wirkend: &
187;Komm, du süße Todesstunde&
171; (BWV 161) oder &
187;Ich freue mich auf meinen Tod&
171; (BWV 82). Man weiß nicht, ob die Textauswahl für "Jesu, meine Freude" von Bach selbst stammt. So oder so, das Ergebnis ist nicht nur theologisch durchdacht, es ist offenbar eine ideale Kompositionsgrundlage. Sechs Choralstrophen nach Texten von Johann Franck wechseln sich ab mit fünf Passagen aus dem Römerbrief des Paulus. So ist die paulinisch strenge, abstrakt-allgemeine Lehre vom &
187;geistlichen&
171; Menschen Absatz für Absatz kontrapunktiert von den quasi privaten Versen der Jesus-liebenden Seele, die - trotz mitunter dramatischer Widerstände - schon in diesem Leben die Fesseln des irdischen Daseins Stück um Stück überwindet. In diesem überaus schlüssigen Konzept steckt auch theatralisches Potenzial.
Bach schafft innerhalb dieser Abfolge von elf Textabschnitten eine symmetrische Architektur: Eingangs- und Schlusschoral, also 1. und 11. Satz, sind musikalisch identisch; die Römerbrief-Abschnitte des 2. und des 10. Satzes entsprechen einander in der musikalischen Grundstruktur; als Choralbearbeitungen sind der 3. und 9. Satz sowie der 5. und 7. Satz einander zugeordnet. Die Römerbrief-Passagen von Satz 4 und Satz 8 korrespondieren im Hinblick auf ihre Dreistimmigkeit. Der sechste Satz steht mit seinem Paulus-Wort für sich allein in der Mitte, als zentrale Achse: eine Fuge, für Bach Inbegriff und Summe aller musikalischen Formen.
&
187;Und wie immer, wo Symmetrien stark betont werden, blüht das Diktat der Asymmetrie auf. Bach liebte die Ausnahme, aber die verborgen eingeschmuggelte, kabbalistisch formulierte, fußnotenähnliche.&
171; So hat Mauricio Kagel einmal, aus der Sicht des Komponisten, Bachs Arbeitsweise charakterisiert. Schaut man sich die elf Sätze einzeln an, stößt man in der Tat allenthalben auf &
187;Ausnahmen&
171; und &
187;Fußnoten&
171;.
1. Satz: &
187;Jesu, meine Freude&
171; (vierstimmiger Choral)
Die Melodie stammt von dem Berliner Kantor Johann Krüger. Musikalisch ist der Satz die thematische Keimzelle der Motette.
2. Satz: &
187;Es ist nun nichts Verdammliches&
171; (fünfstimmige Spruchmotette)
Nach der choralgemäßen Einstimmung wirkt dieser Satz wie die unvermittelte Eröffnung eines Diskurses: Das markante, im kompakt homophonen Satz deklamierte dreimalige &
187;Nichts&
171; mit den beiden Generalpausen widerspricht jeder Erwartung eines konventionellen Motettenanfangs. Hier spricht Paulus durch Bach. Es ist die Rhetorik eines Predigers, der sich durch einen Überraschungseinstieg die Aufmerksamkeit der Gemeinde sichern möchte. Dass sich Bachs Motettenkunst jedoch gerade nicht in plastischer Deklamation und Wortausdeutung erschöpft - das war der Ansatzpunkt eines Heinrich Schütz -, zeigt der Fortgang des Satzes: ein subtiler Wechsel homophoner und polyphoner, durchaus instrumental empfundener Passagen. Aus der paulinischen Predigt wird reine Musik.
3. Satz: &
187;Unter deinem Schirmen&
171; (fünfstimmiger Choral)
Ein typisch Bach&
8217;scher Choralsatz. Das heißt, es ist einiges anders als in der ersten Strophe (1. Satz). Gegen jede Schulregel vom Kantionalsatz, der das gemeinsame harmonische Fortschreiten aller Stimmen pro Viertelnote fordert, bleibt hier der Basston zu Beginn einer jeden Phrase (insgesamt also sieben Mal) bis in die zweite Takthälfte hinein liegen: Es ist der so dezent wie beharrlich gesetzte Einspruch gegen das Wüten von Welt und Satan, kompositorisch gemäß Mauricio Kagel also eine typische Bach&
8217;sche &
187;Fußnote&
171;.
4. Satz: &
187;Denn das Gesetz&
171; (Terzett der Oberstimmen)
Kleines, ruhig dahinfließendes Intermezzo zwischen zwei eher stürmischen Episoden; der Vorgeschmack auf die Freiheit des paulinischen Christenmenschen, im Stil eines quasi instrumentalen Trio-Satzes.
5. Satz: &
187;Trotz&
8217; dem alten Drachen&
171; (fünfstimmige, freie Choralbearbeitung)
Die dritte Choralstrophe ist ein Kabinettstück an musikalischer Gestik und Rhetorik. Das reicht von den theatralischen, gelegentlich dissonanten oder extrem exponierten Ausrufen (&
187;Trotz&
8217;&
171;) über die voran-drängenden Unisono-Gruppen bis hin zum &
187;Toben&
171; und &
187;Brummen&
171; der Welt und dem Beinahe-Abbruch bei ihrem plötzlichen, kleinlauten Verstummen angesichts &
187;gar sichrer Ruh&
171;, die sich mitten in diesem Toben und Springen von einem Takt auf den andern einstellt - als Übergang in eine ganz andere, fließend-melodische Satzart. Auch hier also ist die motettische Wortausdeutung nur ein kompositorisches Moment, immer dominiert letztlich die autonome musikalische Gestalt, die auch ohne Wort Gültigkeit hätte.
6. Satz: &
187;Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern geistlich&
171; (fünfstimmige Fuge)
Anders, als man es von der alten Motettenkunst her vielleicht erwarten würde, stellt Bach hier nicht das paulinisch zentrale Gegensatzpaar &
187;fleischlich - geistlich&
171; in den Mittelpunkt; es bestimmt lediglich die Deklamation und den Duktus des Fugenthemas. Es ist vielmehr der &
187;Geist&
171; selbst, der als Fuge Gestalt annimmt, der Fuge wird, jenseits der Welt der Gegensätze. Die Fugeneinsätze selbst erfolgen ganz und gar unregelmäßig, später werden sie in Terzen geführt und mit einem zweiten Thema (&
187;so anders Gottes Geist&
171;) kombiniert. Bachs Geist der Fuge ist ein befreiter Geist, kein Dogmatiker.
7. Satz: &
187;Weg mit allen Schätzen&
171; (vierstimmiger Choral)
Die Choralmelodie bestimmt unverändert den Satz. Die drei Unterstimmen jedoch führen ein ungestümes Eigenleben, sie kümmern sich nicht um die Phrasierung des Cantus firmus - auch dies also kein üblicher Choralsatz, sondern eine &
187;verdeckte&
171; Choralbearbeitung; darin besteht die Verbindung zu Satz 5 als symmetrischem Pendant.
8. Satz: &
187;So aber Christus in euch ist&
171; (Terzett der Unterstimmen)
Wie beim Gegenstück, Satz 4, handelt es sich hier wieder um ein Intermezzo, wieder um ein Trio, diesmal in den drei unteren Stimmen. Doch nach einem ähnlich ruhigen Anfang geht der Satz unversehens über in ein polyphones Fließen, ausgelöst vom Stichwort &
187;Geist&
171;.
9. Satz: &
187;Gute Nacht, o Wesen&
171; (vierstimmige Choralbearbeitung, Cantus firmus im Alt)
Bach komponiert hier einen schwerelosen, ganz und gar instrumental empfundenen Satz von beinahe pastoralem Charakter: Es dominiert die Stimmung der &
187;guten Nacht&
171;, der innere Friede des Menschen, der die Attraktionen der Welt (&
187;du Stolz und Pracht&
171;) hinter sich gelassen hat.
10. Satz: &
187;So nun der Geist&
171; (fünfstimmige Spruchmotette)
Die Grundstruktur des Satzes entspricht der von Satz 2, sie ist hier lediglich kürzer und dem neuen Text angepasst. Was dann in einem Moment der Überraschung den Rahmen sprengt, das ist die melodische Figur im Sopran I direkt vor Schluss, während die anderen Stimmen schweigen: eine Art Solokadenz auf engstem Raum, zum Schlüsselwort &
187;Geist&
171;.
11. Satz: &
187;Weicht, ihr Trauergeister&
171; (vierstimmiger Choral)
Der Schlusschoral ist musikalisch die Rückkehr zum Anfang und damit zugleich die Komplettierung der Symmetrie.
[© Christoph Hahn. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Bayerischen Rundfunks]
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