Predigt über Johannes 19,26
von Jörg Machel
Liebe Gemeinde, liebe Freundinnen und Freunde, ein Bild und ein Satz bilden die Grundlage dieser Predigt. Doch schon gerate ich ins Stolpern. Denn mit dem Satz wird gerade nicht erklärt, was auf dem Bild zu sehen ist. Die Künstlerin hat ihn seines Zusammenhangs beraubt. Im Johannesevangelium spricht Jesus diese Worte vom Kreuz herab und sorgt für die Mutter, indem er Johannes an seine Stelle setzt.
Doch die Kunst ist frei darin, neu zu sortieren, Zusammenhänge zu lösen und anders zu fügen.
Weib, siehe, das ist dein Sohn! - Nehmen wir diesen Satz und sehen wir auf Maria und auf ihren Sohn! Die PIETÀ steht am Ende einer Geschichte, einer spannungsreichen Geschichte, der Geschichte einer Mutter-Sohn-Beziehung. Die Aussage des Bildes läßt sicht für mich am besten erschließen, wenn ich es in den Kontext der Bilder stelle, auf denen Jesus mit seiner Mutter zu sehen ist
Das erste Bild, an das ich denke, ist meist mit den Worten "Die heilige Familie auf der Flucht nach Ägypten" überschrieben. Der Sohn ist kaum geboren, und schon bestimmt er das Leben der Eltern. Er ist der Grund, daß sie ihre Sachen packen müssen, seinetwegen müssen sie das Land verlassen. Sein Leben gilt es zu schützen, und alles, was Maria und Josef an Lebensplanung im Kopf hatten, wird wegen des Kindes unwichtig.
Es ist, als müßten Eltern den Stab des Lebens weitergeben - ein neuentstandener Mensch hat sofort einen hohen Stellenwert. Große Opfer werden um seinetwillen selbstverständlich.
Und das Kind nimmt jedes Opfer an, ebenso selbstverständlich! Und doch wird sein Leben dadurch geprägt.
Zu spüren, so wichtig genommen zu werden, das gibt dem Leben Kraft und Stärke. Davon kann ein Mensch zehren - sein Leben lang.
Das zweite Bild ist das des zwölfjährigen Jesu im Tempel. Ausreißen und gefundenwerden, so würde ich es überschreiben.
Denn dies sind die entscheidenden Pole der Geschichte für mich. Jesus macht seine ersten eigenen Schritte. Er geht in die Welt hinaus, er sucht nach seiner Bestimmung, er orientiert sich von den Eltern weg.
Die Worte Mutter und Vater bekommen für einen Heranwachsenden einen anderen Klang, stehen nicht mehr für das symbiotische Bezogensein. Der halbwüchsige Junge will seinen eigenen Raum ausmessen, will selbst Entscheidungen treffen, will herausfinden, wo er einmal seine Heimat nehmen wird. Doch so trotzig sich das zumeist gestaltet, und so konsequent es sich in der einzelnen Szene ausnimmt, der Weg dieser Lebensphase ist nicht geradlinig.
So deutlich das Bemühen ist, die eigene Richtung zu finden und herauszutreten aus dem Schutz der Mutter, so groß ist doch der Wunsch noch, wiedergeholt zu werden.
Gerade in diesem Alter müssen Eltern Inkonsequenzen ertragen. Sie müssen es ertragen, daß die Kinder eben nach den Sternen greifen und sich für völlig autonom halten, um danach wieder ganz Kind sein zu wollen, beschützt und bewahrt durch die überströmende Liebe der Eltern.
Das dritte Bild, das ich Ihnen zur Meditation anbiete ist nicht besonders anheimelnd. Es ist jene Szene, in welcher der inzwischen zum Mann gereifte "Jesus in der Synagoge von Kapernaum" predigt und sich allem Zugriff der Familie entzieht. Maria ist auf der Suche nach dem Sohn, doch der weist sie ab. Allein Gott sei ihm Vater, herrscht er sie an, und wendet sich ganz demonstrativ von jenen Bindungen ab, die Geburt und Herkunft nahelegen.
Nur wer seinen Blick angesichts dieser Bibelstelle zu Gott erhebt, kann sie ertragen. Wer auf Maria blickt, dem muß wohl der Atem stocken.
Die Mutter steht verzweifelt vor dem Sohn und wird brüsk weggestoßen, sie erbittet seine Nähe und seine Fürsorge, appelliert an seine Verantwortung für die Familie und erfährt nur Unverständnis.
Wahrscheinlich ist es die Tragik jedes Mutterseins, daß irgendwann das innige Band zerreißt, das Mutter und Sohn im Kindesalter verband. Angedeutet hat es sich bereits in der Szene vom zwölfjährigen Jesus im Tempel und doch war dies nur ein Vorgeschmack. Erst im dritten Lebensjahrzehnt finden die Abnabelung der Jugend ihren Höhepunkt.
Im Kontext unseres Bildes habe ich Geschichten im Ohr, von jungen Männern, die ihr Schwulsein entdecken und in vielen Fällen in einen dramatischen Konflikt mit der Familie geraten. Zwischen verzweifelten Mahnungen und eher lächerlichen Hilfsangeboten gehen die einst so innigen Bindungen kaputt. Häufig ist die Flucht die einzige Rettung für junge Männer, die anders sind, als es die Familie ertragen mag.
Kreuzberg ist voll von solchen Männern, die der Familie entflohen sind, dem Kleinstadtmief, um hier ihr Leben zu führen, so wie es ihren Anlagen und Wünschen entspricht, ohne Verstellungen und Lügen.
Manche kehren gestärkt nach Hause zurück und sind gefestigt genug, dann auch dort ihre Identität zu bekennen; andere ertragen es, daheim ein Kindergesicht vorzuführen und rächen sich mit immer seltener werdenden Besuchen.
In Krisen jedoch ist sie oft wieder da, die alte Bindung, und wenn durch Hilflosigkeit und Dummheit nicht zuviel zerstört wurde, dann zeigt sich wie stark das Band ist, das insbesondere Sohn und Mutter miteinander verbindet.
So wird auch Jesus eingeholt von seinem Sohnsein, von seinem Bezogensein auf die Mutter. Das uns hier besonders interessierende Bild ist die "PIETA", jener Augenblick, in welchem der Leichnam Jesu in den Armen der Mutter ruht. Wie ein Zitat der ersten Stunden mutet diese Figurengruppe an. Am Lebensbeginn sitzt Jesus behütet und geborgen auf dem Schoß der Mutter, nun liegt eben dieser Mensch, ausgewachsen und größer als die Mutter wieder in ihren Armen. Bedingungslose Annahme ist in ihrem Blick, keine Besserwisserei, kein Rechthabenwollen.
Es ist, als bekämen wir eine Rahmenerzählung angeboten: Geburt und Tod sind ganz bezogen auf die Mutter, liegen gewissermaßen in ihren Händen. Dazwischen liegen Episoden großer innerer Spannung, Episoden voller Ungerechtigkeit und voller Mißverständnisse.
Stellenweise möchte man die Mutter vor dem Sohne schützen, und doch ist sie es, die das Leben des Sohnes trägt von der ersten bis zur letzten Stunde.
Es ist nicht ausgewogen, das Verhältnis zwischen uns Söhnen und unseren Müttern. Im Regelfall erfahren die Mütter keine Gerechtigkeit von ihren Söhnen. Fast immer bleiben sie ihnen Wesentliches schuldig.
Doch auch die Söhne haben Grund zur Klage. Auch sie leiden oft schwer darunter, nicht so akzeptiert zu sein, wie es ihnen entspräche.
Es hätte wohl keines Siegmund Freund und der Beschreibung des Ödipuskomplexes bedurft, um zu erahnen, welch unsagbar große Bedeutung die Mutter hat für uns Söhne.
Die Mutter bleibt Bezugspunkt und Reibefläche ein Leben lang. Wir Söhne danken ihr Entscheidendes und entfernen uns doch stetig von ihr, ohne sie je ganz hinter uns zu lassen.
Jesus ist als junger Mann gestorben. Um die dreißig Jahre war er alt. Wenn Maria so jung war, wie wir den Legenden entnehmen dürfen, so war sie keine fünfzig Jahre alt, als ihr Sohn ermordet wurde. Eine unvollendete Mutter-Sohn-Geschichte ist die Geschichte zwischen Maria und Jesus mithin!
Ich denke tatsächlich, daß die Geschichte zwischen Müttern und Söhnen einer längeren Spanne bedarf, um sich zu klären.
Auch das geht mir durch den Sinn, wenn ich an die vielen jungen Männer denke, die in jungen Jahren an Aids gestorben sind, so jung, daß Wichtiges unvollendet blieb.
Die PIETÀ aber deutet an, daß hinter allen Spannungen und Verwerfungen Liebe möglich ist, eine Liebe, die sich auch im Angesicht des Todes zu bewähren vermag.
AMEN