Der Zusammenbruch

Am 18. Februar 1943 hatte Joseph Goebbels seine berühmte Rede vom "totalen Krieg" gehalten. Noch einmal sollten nach der Katastrophe von Stalingrad die zweifelnden und verzweifelnden Volksgenossen in einer großen Propagandaschlacht mobilisiert werden. Was dieser "totale Krieg" bedeutete, erfuhren alle täglich am eigenen Leib. Am 29. Dezember 1943 fällt das Gemeindehaus einem Bombenangriff zum Opfer. Es war bis auf die Keller zerstört und unbrauchbar geworden. Die Emmaus-Kirche kommt noch einmal davon. Aber auch dort gehen im April 1944 durch die Wucht umliegender Detonationen viele Fenster zu Bruch, die nur notdürftig vernagelt werden können. In einer Schadensmeldung vom Oktober 1944 an das Konsistorium berichtet Pfarrer Antoni, daß während des Winters im Kirchenschiff keine Gottesdienste mehr abgehalten werden können, da man nicht mehr über 4 & 176;C Raumtemperatur kommt. Auf den Pfarrern liegt eine übermäßige Arbeitslast. Sie müssen für die zum Krieg eingezogenen Amtskollegen den Dienst mittun. Oft liegen die zu betreuenden Gemeinden weit außerhalb.

April 1945: Sowjetische Panzer auf dem Mariannenplatz

Pfarrer Huhn war zum Beispiel ab 1942 vertretungsweise in Müggelheim, Buckow, Lübars und Wittenau tätig. Bald steht Pfarrer Antoni allein in Emmaus. Pfarrer Zitzmann, der sich inzwischen gut in die Gemeinde eingelebt hatte, wird im April 1944 vom Konsistorium nach Tilsit beordert. Vom Evangelischen Konsistorium Königsberg war mitgeteilt worden, es herrsche in Tilsit "großer kirchlicher Notstand". In anderen Mitteilungen war die Rede von geistlich zu betreuenden evakuierten Gemeindegliedern. Was aber, wie der Sohn Pfarrer Zitzmanns der Gemeinde später mitgeteilt hat, nicht zutraf. Pfarrer Zitzmann hatte diese Versetzung nach Tilsit später immer als eine gegen ihn gerichtete Strafmaßnahme des Konsistoriums interpretiert wegen seiner Aktivitäten in der Bekennenden Kirche. Am 15. September 1944 erhielt er allerdings vom Konsistorium die Aufforderung zur Rückkehr. Pfarrer Huhn war im Sommer an den Folgen einer schweren Erkrankung, die er sich Wochen vorher in einer Bombennacht beim Löschen seiner brennenden Wohnung zugezogen hatte, gestorben. Die Gemeinde brauchte also dringend einen zweiten Pfarrer. Pfarrer Zitzmann sollte nach Beendigung seines Urlaubs darum umgehend seinen Dienst in Emmaus wieder aufnehmen.

[Folgender, kursiv gedruckter Abschnitt wurde im April 2001 geändert. Der originale Text war fehlerhaft und wurde dem Wirken von Parrer Zitzmann nicht gerecht. Wir danken Dr. Hermann Zitzmann für die entsprechenden Hinweise.]

Pfarrer Zitzmann befand sich jedoch auf der Flucht vor der Gestapo. Frau Zitzmann war die Tochter eines jüdischen Christen. Sie galt nach den Rassegesetzen des NS-Staates als Halbjüdin. Ihr drohten daher auf Grund der staatlichen Verfolgungsmaßnahmen die Heranziehung zu Zwangsarbeit und Einweisung in ein KZ. Die meisten jüdischen Verwandten der Ehefrau waren von dieser Maßnahme betroffen und sind in den KZs Theresienstadt und Auschwitz zu Tode gekommen. Auch ihr Bruder, der Bekenntnispfarrer Heinrich Lebrecht, kam in eine Strafkompanie der Organisation Todt und wurde vermutlich von der Gestapo erschlagen. Die Familie Zitzmann verbarg sich daher bis Kriegsende.
Nach dem Zusammenbruch war eine schnelle Rückkehr nach Berlin nicht möglich. Die entsprechenden alliierten Genehmigungen zur Durchreise lagen nicht vor. Zudem verschlimmerte sich eine schwere Erkrankung der Ehefrau, die während der NS-Verfolgung unbehandelt bleiben mußte, so daß Frau Zitzmann im November 1946 verstarb.
Pfarrer Zitzmann verwaltete nach 1945 zunächst mehrere vakante Gemeindepfarrstellen in Köln und wurde schließlich Pfarrer am Kölner Untersuchungs- und Strafgefängnis. Er verstarb im Alter von 89 Jahren

Am 1. Februar 1945 wird Berlin zum "Verteidigungsbereich" erklärt. Wer konnte, hatte die Stadt längst verlassen. Eine offizielle Evakuierung der Zivilbevölkerung, wie sonst in solchen Fällen üblich, war nicht vorgesehen. Die Berliner blieben bis zuletzt Geiseln einer Führung, deren immer wahnwitzigere Befehle sich schließlich gegen die eigene Bevölkerung richteten.
Der Südosten Kreuzbergs blieb bis auf wenige Ausnahmen von flächendeckenden Zerstörungen durch Bombenangriffe verschont. Nur der Görlitzer Bahnhof bildete ein bevorzugtes Angriffsziel. Dies wurde dem angrenzenden Gebiet und auch der Emmaus-Kirche zum Verhängnis. Bei einem Großangriff am 3. Februar 1945, einem Sonnabend, fiel die Kirche in Schutt und Asche. Derselbe Angriff hatte zahllose Menschen das Leben gekostet. Das Kirchenschiff war "durch 2, wahrscheinlich 3 Sprengbomben von der West- und Nordseite" schwer getroffen, "dabei ist das Innere der Kirche vollkommen zerstört worden. Durch Funkenflug entstand dann ein Brand, der nicht gelöscht werden konnte. Die oberen beiden Kirchsäle sind ausgebrannt, die unteren beiden Kirchsäle in Mitleidenschaft gezogen. Der Turm mit Glockenstuhl ist stehen geblieben." - So steht es in der von Pfarrer Antoni am 9. Februar 1945 verfaßten Meldung an den Berliner Stadtsynodalverband. Mit der gesamten kostbaren Inneneinrichtung verbrannte auch die neue Schuke-Orgel, die erst im Herbst 1941 eingeweiht worden war und für die die Gemeinde große Opfer aufgebracht hatte. Die noch einigermaßen intakten Säle des Kirchturms wurden wenige Wochen später während der Kampfhandlungen beim Einmarsch der Roten Armee durch Beschuß nochmals erheblich beschädigt.
Der Kirchenkeller war schon 1939 zum öffentlichen Luftschutzkeller ausgebaut worden, und die Gemeinde mußte nun bei der Polizei darum ansuchen, einen der Räume als Gottesdienstraum benutzen zu dürfen.

Kirche 1946

Die zerstörte Emmaus-Kirche im Dezember 1946

Dies war nun also das Ende der Emmaus-Kirche. Wir wissen nicht, wie die Gemeinde die letzten Wochen des Krieges erlebt hat - die Standgerichte, den Terror gegen die eigene Bevölkerung durch die planmäßige Zerstörung der letzten Lebensmittelreserven, die Überflutung der U-Bahnschächte durch Sprengung der Schottenkammern des Landwehrkanals, so daß sie für Hunderte Schutzsuchender zur Todesfalle wurden. Am 21. April 1945 hatte die Rote Armee die Vororte erreicht, am 25. war der Ring um Berlin geschlossen. Nach blutigen Straßenkämpfen wurde Kreuzberg zwischen dem 26. und 28. April erobert. Am 2. Mai kapitulierte die Stadt. Der Krieg war für die Berliner zu Ende. Seine Schrecken, Vergewaltigungen, Hunger, Obdachlosigkeit, hörten mit diesem Tag nicht schlagartig auf. Die Sterbebücher der Emmaus-Gemeinde lassen das ganze Ausmaß des Leids dieser letzten Kriegswochen erahnen. Wir lesen unter "Todesursachen": "verschüttet", "erstickt", "Herzschlag im Bunker", "Verbrennungen 3. Grades", "Schädelzertrümmerung", "Flaksplitter", "Geschoß ins Gesicht", "Granatsplitter", "Abriß des linken Beines", "Kopfschuß" und zunehmend "Selbstmord durch Erhängen", "Selbstmord Fenstersturz", "Pulsaderöffnung", "Morphiumvergiftung", "Freitod durch Erschießen".
Viele Hellsichtige hatten die Katastrophe kommen sehen. In Predigten und Kanzelabkündigungen hatten die Pfarrer der Bekennenden Kirche immer wieder gemahnt und zur Umkehr aufgerufen. Sie waren als weltfremde Fanatiker, als Ewig-Gestrige verhöhnt worden, die nichts begriffen von der Wirklichkeit der großen Zeit. Nun hatte eine grausame Realität erwiesen, wer Wahn und Wirklichkeit verwechselt hatte.

Kirche 1946

 

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